DOMRADIO.DE: Wie kann es denn überhaupt sein, dass es für immer mehr Menschen so bedrohlich in Venezuela wird?
Gernot Ritthaler (Nothilfe-Koordinator von Caritas international): Das Land ist total heruntergewirtschaftet. Die Regierung ist seit Jahren nicht in der Lage, die großen Reichtümer, die es in dem Land gibt, wie Erdöl, eine gut entwickelte Landwirtschaft und Industrie, zum Wohlstand der Bevölkerung zu nutzen. Stattdessen ist alles irgendwie in einem korrupten System zerstört worden. "Bad Governance" würde man sagen. Es kommen keine Dollars ins Land, es gibt keine Investitionen, und die ganze Wirtschaft ist zum Stillstand gekommen.
Es ist einfach so, dass - abgesehen von einer sehr kleinen reichen Oberschicht, die Zugang zu diesen Ressourcen hat -, die meisten Menschen immer mehr in existenzbedrohende Situationen abdriften. Gerade die Ärmsten der Armen, das sind ungefähr 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung, die keinen Zugang zu Dollars oder Arbeit für einen fairen Lohn haben und nicht Teil des Systems sind, fallen völlig raus.
DOMRADIO.DE: Dazu gibt es auch Zahlen. Erhebungen zeigen gerade, dass nur 31 Prozent der Kinder unter fünf Jahren noch einen guten Ernährungszustand aufweisen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine kleine, aber sehr reiche Oberschicht. Wie nehmen die Menschen diese soziale Ungerechtigkeit wahr?
Ritthaler: Zum einen herrscht sehr viel Ungeduld und Unruhe, dass da wirklich mal was passiert. Man bekommt es auch aus den Medien mit. Es gibt seit Monaten ein politisches Spiel zwischen dem derzeitigen Präsidenten Maduro und dem Oppositionsführer Guaido. Aber das ist irgendwie eine Sackgasse. Die sind völlig ineinander verkeilt, da bewegt sich überhaupt nichts. Die Bevölkerung wünscht sich sehnlichst eine Lösung dieser politischen Krise.
Auf der anderen Seite herrscht auch ein großer Fatalismus, denn die meisten Menschen glauben einfach nicht daran, dass da sehr schnell was passiert. Sie kennen das jetzt schon seit so vielen Jahren. Die Leute sind einfach an diesen Überlebenskampf gewöhnt und haben alle möglichen Strategien entwickelt, um irgendwie Sachen zu verkaufen. Aber es geht jetzt in den letzten Monaten immer mehr dahin, dass die Leute an ihre Existenzmittel heranrangehen müssen. Die verkaufen alles, was sie noch haben, um Lebensmittel und das, was sie zum täglichen Bedarf brauchen, zu kaufen.
Wenn man sich vorstellt, dass der gesetzliche Mindestlohn zurzeit etwa zehn US-Dollar beträgt und ein Liter Milch zwei Dollar und ein kleines Brot 50 Cent kosten, dann kann man sich vorstellen, wie schwer es für eine Familie ist, mit dem Geld auszukommen. Ich war eine Woche da und habe mit vielen Menschen gesprochen und kann es aus meiner westlichen Perspektive immer noch nicht nachvollziehen, wie die Menschen das schaffen. Es gibt viele unterernährte Kinder, die unter Mangelernährung leiden. Das wird immer bedrohlicher. Das hat sich in den letzten Monaten absolut verschärft.
DOMRADIO.DE: Was können Sie tun? Wie sieht Ihre Hilfe aktuell aus?
Ritthaler: Wir haben jetzt mit Unterstützung von der Bundesregierung, vom Auswärtigen Amt und zusammen mit unserer lokalen Partnerorganisation Caritas Venezuela ein Programm aufgesetzt. Die Familien mit unterernährten Kindern bekommen für fünf Monate monatlich 80 Euro auf elektronischen Gutscheinkarten, mit denen sie in Läden ihrer Wahl einkaufen können. Dort können sie Nahrungsmittel kaufen. Die Menschen können frei entscheiden, was sie kaufen wollen. Durch die Auswahl, dass es sich um Familien mit unterernährten Kindern handelt, ist sicher gestellt, dass das Geld tatsächlich für Nahrungsmittel ausgegeben wird.
Wir machen die Erfahrung, dass die Kinder aus den Familien innerhalb weniger Monate drei bis vier Kilo zugenommen haben. Sie haben einfach jetzt mal fünf Monate Zeit, um wieder durchzuatmen, um sich etwas aufzupäppeln. Die Menschen wissen, dass das Programm für sie nach fünf Monaten endet. Wir wollen dann anderen Familien auch die Gelegenheit geben, in den Genuss der Hilfe zu kommen. Seit einem halben Jahr sind wir in dem Projekt. Das funktioniert sehr gut, und wir möchten das auf 9.000 Familien ausweiten.
Wenn Sie sehen, wie viel Solidarität es zwischen den Familien gibt, Frauen mit Kind auf dem Schoß, die mit Tränen in den Augen sagen: "Ich bin so dankbar, dass ich diese Hilfe für ein halbes Jahr hatte. Aber meine Nachbarn brauchen das auch. Es ist okay, wenn die Unterstützung aufhört. Ich hätte das gerne weiter, aber es gibt so viele andere, die es auch brauchen."
Ich habe so viel Solidarität und Zusammenstehen gerade der Armen erlebt. Das versuchen wir zu unterstützen. Das ist nicht die große Lösung, die muss aus der Politik kommen. Aber wir können konkret Menschen helfen, durch so eine schwierige Lage durchzukommen.
Das Interview führte Verena Tröster.