Der wegen Nichtanzeige sexuellen Missbrauchs verurteilte französische Kardinal Philippe Barbarin ist am Montagvormittag mit Papst Franziskus im Vatikan zusammengetroffen. Das vatikanische Presseamt gab die Audienz ohne weitere Angaben bekannt.
Die Frage steht im Raum, wann Kardinal Philippe Barbarin (68) vom Missbrauch an etwa 70 Pfadfindern zwischen 1970 und 1991 erfuhr? Der Prozess, der seit Anfang Januar in Lyon dieser Frage nachging, hat die katholische Kirche in Frankreich aufgewühlt. Um der Wahrheit näher zu kommen, verhörten die Richter tagelang Opfer und Geistliche. Auch Barbarin kam in den Zeugenstand und erklärte detailliert seine Sicht des Falls. "Ich habe niemals den sexuellen Missbrauch gedeckt, der von einem Priester begangen wurde", sagte der 68-Jährige damals.
Die Richter sahen das anders. Sie befanden ihn am 7. März für schuldig. Sechs Monate Bewährungsstrafe erhielt Barbarin für die Nichtanzeige sexueller Übergriffe. Es war ein Schock. Über mehrere Jahre hatte sich das Verfahren gezogen. Eine erste Untersuchung der Staatsanwaltschaft war wegen mangelnder Beweise 2016 eingestellt worden.
Rücktritt zum "Wohl der Diözese"
Barbarin zog aus dem Fall Konsequenzen. Wenige Stunden nach dem Urteil verkündet er, Papst Franziskus seinen Rücktritt anzubieten. Später sagte der Weihbischof von Lyon, Emmanuel Gobbilliard, nicht das Urteil, sondern der Prozess Barbarin habe zu dieser Entscheidung bewegt. "Die Opfer haben zu viel gelitten, die Diözese hat zu viel gelitten, es ist vielleicht an der Zeit, eine Veränderung zu leben", soll Barbarin dem Weihbischof gesagt haben. Der Rücktritt sei zum "Wohl der Diözese", so Gobilliard. Barbarin wolle im Vatikan eine "echte Bestandsaufnahme" unternehmen.
Der Kardinal war eine Schlüsselfigur der katholischen Kirche in Frankreich. Er ist Primas von Gallien und Erzbischof von Lyon. Sein Umgang mit den Missbrauchsfällen von Preynat füllten Zeitungsseiten, Tonbänder und läuft derzeit sogar im Kino. Das Drama "Gelobt sei Gott" von Francois Ozon bildet den Lyoner Missbrauchsskandal ab.
Missbrauchsskandal in Frankreich
Der offenbar pflichtvergessene Umgang des Lyoner Kardinals mit den Missbrauchsfällen überschattet alle Initiativen, die die katholische Kirche in den vergangenen Jahren angestoßen hat, um das Übel der sexuellen Gewalt in ihren Reihen zu bekämpfen. Zentrale Missbrauchsstellen in den Diözesen, Vergebungsmessen, Treffen mit Missbrauchsopfern - die katholische Kirche in Frankreich hat in den vergangenen drei Jahren einiges getan, um Missbrauchsfälle aufzuklären und Opfern zuzuhören.
Doch das Image der Kirche in Frankreich hat zwangsläufig gelitten. Kaum eine Woche vergeht, in der es das Thema Missbrauch in Verbindung mit der Kirche nicht in die Zeitungen schafft. Der französische Fernsehsender "Arte" zeigte zwei Tage vor dem Urteil an Barbarin eine Dokumentation zum Missbrauch an Ordensfrauen. Gegen den Nuntius in Paris, Luigi Ventura, läuft eine Untersuchung wegen sexueller Übergriffe.
Generationenwechsel bedeutet Wende
Die Zahl der Katholiken in Frankreich nimmt seit Jahren ab. Sagten 1972 noch 87 Prozent der Franzosen sie seien katholisch, waren es 2010 nur noch 65 Prozent laut dem französischen Meinungsforschungsinstitut Ifop. Etwa zehn Prozent der französischen Bevölkerung gelten als praktizierende Katholiken. Ifop-Direktor Jerome Fourquet sieht eine Gesellschaft, die sich immer mehr vom Christentum entfremdet. "Wir stehen vor einer großen Wende aufgrund des Generationenwechsels, so Fourquet.
Der Vatikan-Experte und Journalist Jean-Marie Guenois sieht in dem Urteil auch die öffentliche Meinung zum Umgang der Kirche mit dem Missbrauch gespiegelt. Sie habe sich in den vergangenen Jahren verändert. Barbarin bezahle mit dem Urteil auch für die Verfehlungen seiner Vorgänger mit Missbrauchsfällen und die "Kultur des Schweigens" der Kirche. Akzeptiere Papst Franziskus den Rücktritt Barbarins, könnte das auch Konsequenzen für andere Bischöfe in ähnlichen Situationen haben, so Guenois. "Es ist die Überzeugung von der moralischen Mittäterschaft mit einem Schuldigen, die sich hier etabliert", so der Experte.
Chance oder Risiko?
Für die katholische Kirche in Frankreich könnte ein Rücktritt Barbarins eine Chance sein. Ihre Initiativen gegen Missbrauch könnten an Glaubwürdigkeit gewinnen. Der Satz, der unter vielen Pressemitteilungen der Französischen Bischofskonferenz in der Vergangenheit stand: "Wir bekräftigen unsere Entschlossenheit, gegen alle sexuellen Übergriffe von Klerikern gegen Minderjährige vorzugehen" könnte neue Relevanz erhalten.