Bonifatiuswerk: Sie sagen, die Aufklärung sei trotz ihrer Religionskritik auch ein Erbe des Christentums. Worin erkennen Sie dieses Erbe?
Prof. Navid Kermani (Schriftsteller und Publizist): Die Aufklärung bildete eine eigene Kultur, indem sie sich von der kirchlich verfassten Gesellschaft abgrenzte. Aber in dieser Abgrenzung hat man vieles aus dem Christentum übernommen, etwa die der Gleichheit aller Menschen. Die Französische Revolution war ja selbst von einem fast religiösen Furor. Robespierres Anmaßung, zu bestimmen, was richtig ist, hatte religiöse Anmutungen. Das ist die ungute Seite des religiösen Erbes, das sich bis in die Diktaturen hineinzieht: Dass man den Menschen vorschreiben will, wie sie zu leben haben.
Es ist nicht so, dass das Gute an der Moderne auf das Christentum zurückgeht und das Schlechte auf das Säkulare. Die Vorstellung, die Geschichte habe ein Ziel, ist auch ein christliches Erbe. Wenn man so denkt, kann man alles diesem Ziel, dieser Zukunft unterordnen und die aufopfern, die der Verwirklichung im Wege stehen. Auch das Missionarische der Religionen lebt weiter. Im Guten wie im Bösen spielt die christliche Denktradition in die Moderne bis in die atheistischen totalitären Ideologien hinein.
Bonifatiuswerk: Die christlichen Einflüsse in der Gesellschaft bestehen also weiter, auch wenn die Kirchen an Einfluss verlieren?
Kermani: Ja, so ist es. Und hoffentlich bestehen sie fort, denn wenn das nicht so wäre, dann hätten wir die uneingeschränkte Ideologie des Marktes und der bloßen Funktionalität. Wenn nur das zählt, was Geld bringt und funktioniert, erst dann wäre das religiöse Erbe vollends beseitigt. Die Ablehnung dieser durchökonomisierten Gesellschaft verbindet Aufklärung und Religion, also die Menschen, die sich als Humanisten verstehen, und die, die sich als Gläubige verstehen. Es handelt sich um die Gegenwehr eines gemeinsamen humanistischen Erbes gegen die Doktrin der Funktionalität. Die Menschen sollen nicht nur nach ihrem wirtschaftlichen Nutzen bewertet werden. Das entspricht nicht ihrer Würde.
Bonifatiuswerk: Ist es eine richtige Idee, wenn die säkularen Muslime einen Verband gründen wollen?
Kermani: Es ist gut, wenn die Muslime eine Stimme erhalten, die sich nicht von den Verbänden vertreten fühlen. Man kann von den bisherigen Verbänden halten, was man will, aber es ist ein Fakt, dass bislang nur eine Minderheit der Muslime von ihnen vertreten wird. In der Regel handelt es sich dabei um Moscheegänger, doch nur eine Minderheit der Muslime geht freitags in eine Moschee. Es ist wichtig, dass sich andere muslimische Stimmen selbstbewusst melden. Eine Religion, die in eine säkular verfasste Welt kommt, passt sich an.
Das gibt es auch im Islam. Es gibt ja schon den schwulen Islam, den lesbischen Islam und so fort. Wenn eine Religion auf eine plurale Gesellschaft trifft, dann werden sich die, die sich nicht an die religiösen Regeln halten, deshalb nicht als Nicht-Muslime begreifen. Sondern sie werden Islam so für sich definieren, wie sie ihn für richtig halten.
Bonifatiuswerk: Der Islam würde sich also zur Gesellschaft hin öffnen?
Kermani: Es gibt auch die Entwicklung zu einem fundamentalistischen, unpolitischen Islam, einem Gegenbild zu den christlichen evangelikalen Kirchen. Die wirklichen religiösen Bewegungen, die Masse machen, sind nicht die Liberalen, sondern das sind die Pendants zu den evangelikalen Bewegungen, die es in allen Religionen gibt, etwa auch als Hindunationalismus. Der Einzelne erhält ein festes Wertesystem und gleichzeitig kapselt sich die Gemeinschaft gegen andere ab. Das kommt modern und begleitet von den neuen sozialen Medien daher. Aber im Kern ist es fundamentalistisch.
Das Interview führte Karl-Martin Flüter.
Navid Kermani äußerte sich im Rahmen des Europakongresses des Bonifatiuswerkes und der Katholischen Hochschule NRW zur Stellung des Islam und des Christentums in der modernen Gesellschaft.