Das "neue Libyen" feiert den Beginn der Revolution vor einem Jahr

Zwischen Rache und Gerechtigkeit

Der 17. Februar gilt als Jahrestag des Aufstandes gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi. Es war der erste "Tag des Zorns" in Bengasi. Zwar brauchte es noch Monate, um den Diktator zu stürzen. Dennoch ist der Tag für das "neue Libyen" ein besonderer.

Autor/in:
Julia Gerlach
 (DR)

"Dies hier ist euer Bereich. Ihr müsst besonders diese Seite sichern." Die 45-jährige Nagah Boudijaja gibt den fünf jungen Frauen letzte Anweisungen. Sie sind zuständig für die Sicherheit der Frauen beim großen Revolutionsfest auf dem Platz der Befreiung in Bengasi. Hunderte Menschen laufen durcheinander, treffen letzte Vorbereitungen. An diesem Freitag ab 16 Uhr soll hier die größte Party beginnen, die Libyen je gesehen hat.



Am 17. Februar vor einem Jahr begann in Bengasi die Revolution. Jugendliche und Anwälte versammelten sich und protestierten gegen die Herrschaft von Muammar al-Gaddafi. Schnell wurde aus den friedlichen Demonstrationen ein bewaffneter Aufstand. Die Demonstranten eroberten die Kasernen der Gaddafi-Truppen, und Bengasi war nach nur fünf Tagen eine befreite Stadt. Schnell liefen Armeeangehörige und Minister zur Revolution über.



Dennoch brauchte es noch bis September, bis auch Tripolis von den Revolutionären befreit wurde, und ohne die Unterstützung aus der Luft durch die NATO wäre dies auch nicht gelungen. Mehr als 50.000 Menschen starben. "Jetzt haben wir die Freiheit. Das ist unfassbar. Wenn ich zurückdenke, was in diesem einen Jahr alles passiert ist", sagt Boudijaja, die zum schwarzen Mantel und schwarzen Kopftuch einen pinkfarbenen Schal trägt. Bis vor einem Jahr arbeitete sie als Sekretärin.



"Nicht schön, aber doch menschlich"

Als die Revolution in Bengasi begann, war sie von Anfang an dabei. Ihr kam zu Gute, das sie in ihrer Jugend Soldatin der Luftwaffe gewesen war. Sie schloss sich einer Miliz an. Zu dieser gehört sie auch jetzt noch, auch wenn die Kämpfe in Bengasi längst vorbei sind. Sie sorgt mit "ihren Mädels" für die Sicherheit bei Großveranstaltungen wie der Party am Freitag. "Es gibt Drohungen und wir befürchten, dass es zu Zwischenfällen kommen könnte", sagt sie.



Erst vor ein paar Tagen hat sich Gaddafis Sohn Saadi aus dem Exil im Niger gemeldet und seine Anhänger zum Aufstand gegen das "neue Libyen" aufgerufen. "Sie werden zwar nicht mehr das Land zurückerobern können, aber sie könnten für Unruhe sorgen und womöglich Anschläge verüben", sagt sie. Boudijaja ist zugleich Mitglied einer Spezialeinheit: "Wenn eine Zelle von Gaddafi-Anhängern aufgespürt wird und auch Frauen unter ihnen vermutet werden, dann bin ich dabei."



Wer gefangen genommen werde, komme in die Gefängnisse ihrer Miliz: "Die Regierung ist ja noch nicht so weit, dass sie wirkliche Gefängnisse betreiben kann", sagt sie. Von Vorwürfen, dass die Milizen es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen, will sie nichts hören: "Wissen Sie eigentlich, mit was für Leuten wir es zu tun haben? Die Truppen Gaddafis haben Tausende Frauen vergewaltigt. Sie haben Menschen in Container gesperrt und ersticken lassen!" Angesichts dieser Verbrechen, sei es nicht schön, aber doch menschlich, dass die Milizen ihre Gefangenen hart anfassten.



Menschenrechtler klagen an

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat zum Jahrestag einen kritischen Bericht vorgelegt: Folter und Misshandlung von Gefangenen seien in den Gefängnissen der Milizen in Libyen "weit verbreitet" und die Menschenrechtsverletzungen "gravierend". Besonders berüchtigt ist das Militärgefängnis von Misurata. Es untersteht zwar bereits der neu gegründeten Nationalen Armee. Jedoch werden die Gefangenen oft bei ihrer Festnahme durch Milizen schwer misshandelt und kommen mit Knochenbrüchen, Brandwunden und herausgerissenen Nägeln in dem Gefängnis an.



"Wir sind in diesem Gefängnis nie Zeugen von Folterungen geworden, allerdings wurden regelmäßig Gefangene zum Verhör abgeholt und anschließend mit deutlichen Spuren von Misshandlung zurückgebracht", sagt Claudia Evers von "Ärzte ohne Grenzen". Die Hilfsorganisation hat aus Protest gegen die Folter die Arbeit im Gefängnis von Misurata eingestellt.



Die Übergangsregierung in Tripolis kündigte wiederholt an, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Ihr fehlt jedoch das Durchsetzungsvermögen. Auch sind die Gerichte noch nicht in der Lage, Tausenden inhaftierter Gaddafi-Anhänger den Prozess zu machen. "Wir brauchen dringend Gerechtigkeit", sagt Elhadi Elghariani, Berater des libyschen Premierministers Mustafa Abushaghur. "Wer Verbrechen begangen hat, muss bestraft werden. Nur durch staatliche Gerichte können wir den Rachedurst der Opfer und der Milizen stoppen."