domradio.de: Wie haben sich die Hilfsmaßnahmen im Laufe der Zeit verändert?
Johnen: Man muss heute sicherlich viel mehr helfen. Das Dramatische ist, dass sich die Struktur der Hilfe in diesen Jahren nicht verändert hat. Es geht immer noch um Not- und Überlebenshilfe. Der Krieg hat eine derartige Dynamik entwickelt, dass die Hilfe nicht in den "normalen" Zyklus gekommen ist, wo man sagen könnte: Wir sind an einem Punkt, wo der Wiederaufbau beginnen kann, wo eine Versöhnung eingesetzt hat. Die Situation ist im Gegenteil nur immer noch schlimmer geworden. Und sie wird immer noch immer schlimmer.
Es geht daher heute wie vor vier Jahren immer noch rein um die Deckung von Grundbedürfnissen: Lebensmittel, Unterkunft, Wasser, grundlegende Hygienemaßnahmen, Gesundheit. Immer noch steht der Aufbau einer logistischen Infrastruktur im Mittelpunkt, um überhaupt die Versorgung von inzwischen mehr als vier Millionen Menschen durch den syrischen Roten Halbmond möglich zu machen.
domradio.de: Wie gefährlich ist es, zu helfen?
Johnen: Es ist eines der traurigen Kennzeichen dieses Krieges, dass es nicht nur für die Zivilbevölkerung in Syrien extrem gefährlich ist, der Großteil der Opfer sind ja Zivilisten. Es ist auch für die humanitären Helfer sehr gefährlich. Über 40 Helfer des Roten Halbmondes sind im Einsatz ums Leben gekommen. Das erschwert die Hilfe ungemein.
domradio.de: Wie ist die aktuelle Lage der Menschen?
Johnen: Die Lage wird immer verzweifelter. Am Anfang sind die Menschen aus den umkämpften Gebieten in andere Orte geflohen. Dann wurden sie auch dort durch Kämpfe vertrieben. Mit jeder Vertreibung wurden die ökonomischen Ressourcen der Menschen geringer und geringer. Sie Flüchtlinge mussten immer wieder ihr Hab und Gut zurücklassen oder für die Flucht einsetzen. Den meisten Menschen ist inzwischen nichts mehr geblieben.
domradio.de: Wie wird es in vier Jahren aussehen?
Johnen: So wie es derzeit aussieht, müssen wir uns darauf einstellen, sehr langfristig Nothilfe und Überlebenshilfe zu leisten. Und wenn der Krieg eines Tages ein Ende finden sollte, wird der Wiederaufbaubedarf ganz enorm sein. Die Städte sind stark bis völlig zerstört. Die Wirtschaft, das Bildungs- und Gesundheitswesen, das liegt alles völlig am Boden.
domradio.de: Gibt es irgendetwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Johnen: Für das Rote Kreuz ist es eine Hoffnung, zu sehen, wie die Freiwilligen des Roten Halbmondes, das sind ungefähr 3.000 Menschen im gesamten Land, ihr Leben riskieren. Zu sehen, wie diese Menschen in diesen finsteren Zeiten die Prinzipien der Menschlichkeit aufrecht halten. Es gibt viele Menschen, die sich trotz allem nicht unterkriegen lassen. Das ist leider der einzige Hoffnungsschimmer derzeit.
Das Interview führte Mathias Friebe.