Das Wetter war für Januar in Ordnung, Freunde und Kollegen plauderten über die Feiertage, das neue Jahr war noch nicht recht in Schwung gekommen. Dann fragte jemand: "Habt ihr von der Schießerei in Paris gehört?" - Und plötzlich war 2015 voll da, "in your face", gewissermaßen. Der Terroranschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" löste neben Entsetzen auch eine Welle von Bekenntnissen zur Meinungsfreiheit aus.
Eine halbe Stunde nach dem Attentat verschickte der französische Grafiker Joachim Roncin die Worte "Je suis Charlie" über Twitter. Der Solidaritäts-Slogan wurde millionenfach im Internet geteilt und auf Plakaten durch die Straßen getragen - und erst später hinterfragt.
Gemeint war die Parole als Synonym für "Ich bin frei" und "Ich habe keine Angst", wie der Urheber erklärte - und genauso fassten sie Menschen in aller Welt spontan wohl auch auf.
Im Verlauf des Jahres drängten andere Themen auf die Bildfläche. Der Terror blieb jedoch präsent - und mit ihm Debatten um die Meinungsfreiheit. Nach langem Hin und Her fuhren in den rheinischen Rosenmontagszügen mehrere entsprechende Motivwagen mit. Den Kölner Zug führte ein Wagen an, auf dem ein Clown einen gerodeten Buntstift-Wald goss: Laut Zugleiter Christoph Kuckelhorn ein Symbol dafür, "dass wir jetzt und in Zukunft den Finger in die Wunden legen und auf kölsche Art dem Zeitgeschehen den Narrenspiegel vorhalten werden".
Absage Karnevalszug in Braunschweig
Andererseits musste der größte norddeutsche Karnevalszug in Braunschweig abgesagt werden - wegen konkreten Hinweisen auf Anschläge. Einen Tag zuvor waren zwei Menschen bei einem Anschlag in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen gestorben. In den Reaktionen stand Enttäuschung neben Verständnis. "Kuschen" sei auf Dauer das falsche Signal, mahnte der katholische Weihbischof Hans-Jochen Jaschke.
Dieses Pochen auf die Meinungs-, Versammlungs-, Presse- und Narrenfreiheit zog sich wie ein roter Faden durch das Jahr. Auf der Frankfurter Buchmesse hielt der Schriftsteller Salman Rushdie ein flammendes Plädoyer. Die Meinungsfreiheit sei ein Menschenrecht, betonte der britisch-indische Autor, den seit 1989 eine Fatwa mit dem Tode bedroht. Ayatollah Chomeini hatte seinen islamischen Richtspruch damit begründet, dass Rushdies Buch "Die satanischen Verse" (1988) "gegen den Islam, den Propheten und den Koran" gerichtet sei.
Auszeichnung Blogger Badawi mit Sacharow-Preis
Mitte Dezember erhielt der saudi-arabische Blogger Raif Badawi den Sacharow-Preis. Eine Auszeichnung mit Botschaft: Das EU-Parlament wolle mit ihr den Wert der Meinungsfreiheit unterstreichen, erklärte Präsident Martin Schulz. Badawi ist seit drei Jahren inhaftiert, verurteilt zu zehn Jahren Gefängnis und 1.000 Peitschenhieben - wegen "Apostasie", Abtrünnigkeit vom Islam. Kein Einzelfall, sagen Menschenrechtler: In vielen Ländern würden abweichende Meinungen systematisch unterdrückt.
Genau diesen Vorwurf gibt es unterdessen auch in Deutschland. "Heute, wo es keine Zensur mehr gibt, wird darüber mehr geredet als je zuvor", so bringt es die "Welt" auf den Punkt. Manche Kommentatoren werfen den als "Lügenpresse" titulierten Medien bereits Zensur vor, wenn diese ihre Kommentarspalten schließen, um Online-Hetze gegen Flüchtlinge oder Muslime zu unterbinden. Das Magazin "t3n" bezeichnete 2015 als "Jahr des Hasstiraden": Beschimpfungen und Beleidigungen seien in den Sozialen Netzwerken "fast schon omnipräsent".
Digitale Hetze mit Folgen
Die digitale Hetze hat teils sehr reale Folgen. So entschied die Supermarkt-Kette Spar Anfang Dezember nach einem Shitstorm, den Verkauf von Halal-Fleisch in Wien zu stoppen. Ein Einknicken vor Rechtsextremen, kritisierten einige Beobachter.
Das Wetter war für November ziemlich in Ordnung, Freunde und Kollegen plauderten über das nahende Wochenende. Dann hörte man von den neuerlichen Anschlägen in Paris, die den Normalbürger vielleicht noch mehr verunsicherten als jene im Januar. Wieder entbrannten Diskussionen über Satire und Solidarität, Meinungen und Meinungsmache. Einigkeit bestand jedoch darin, dass die Gesellschaft sich über eines keine Diskussion aufdrängen lassen dürfe: die Freiheit.