KNA: Was waren vor einem Vierteljahrhundert die Ursachen für den Aufstand der Dschungel-Guerilleros in Chiapas?
Reiner Wilhelm (Mexiko-Experte des katholischen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat): Eigentlich hat sich an den Ursachen von damals wenig geändert: Es handelt sich nach wie vor um eine der ärmsten Regionen in ganz Mexiko. Schon in den 70er-Jahren kam es zu vehementen Verteilungskonflikten, weil die Regierung dort Menschen aus anderen Teilen des Landes ansiedelte. Die heimische Bevölkerung - in der Regel Indigene - steht am Rande der Gesellschaft. Sie haben kaum Einkünfte und werden in vielerlei Hinsicht benachteiligt und diskriminiert. Anfang der 90er-Jahre wurde obendrein eine Landreform zulasten vieler Ureinwohner beschlossen. Das sind alles Faktoren, die letztlich zu der Revolte führten.
KNA: Wie erklären Sie sich, dass diese regional begrenzte Bewegung lange Zeit eine solch große internationale Aufmerksamkeit erfuhr? Bis heute hat die "Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung" (EZLN) erheblichen Einfluss in linken Netzwerken.
Wilhelm: Ein Grund für die Popularität ist die Globalisierungskritik, die im Protest der Zapatisten zum Ausdruck kommt. Wie stark dürfen Freihandelsabkommen wie NAFTA in Gesellschaft und Politik eingreifen. Das ist eine aktuelle Frage von grundsätzlicher Bedeutung. In Chiapas wurde der Weltöffentlichkeit deutlich vor Augen geführt, welch negative Folgen der Neoliberalismus haben kann.
KNA: Wie kann es sein, dass der Chiapas-Konflikt 25 Jahre nach Beginn des militärischen Aufstands immer noch nicht beigelegt ist?
Wilhelm: 1996 wurde auf Vermittlung des damaligen Bischofs von San Cristobal de las Casas, Samuel Ruiz, das vielversprechende Abkommen von San Andres unterzeichnet. Es sieht unter anderem eine Aufnahme von Autonomierechten für die indigene Bevölkerung in die Verfassung vor. Die Vereinbarung wurde allerdings nie umgesetzt. Auch sonst gab es bislang keine substanziellen Verbesserungen, die zu einer Lösung hätten führen können. Hinzu kommt die unklare Regierungslinie:
Einerseits wollte man die Zapatisten vereinnahmen, andererseits hat man immer versucht, sie zu kriminalisieren und zu verfolgen. Es fehlte stets die Grundlage für eine politische Annäherung.
KNA: Eine militärische Lösung gab es ebenfalls nicht. Wieso?
Wilhelm: Es kam zwar zu bewaffneten Auseinandersetzungen, auch in der jüngsten Geschichte. Aber die Konfliktregion mit den sogenannten befreiten Dörfern hat eine Sonderstellung und ist immens stark militarisiert. Ich war selbst dort: Sie fahren da durch die Straßen, und überall stehen Kontrollposten. Viele Menschen im EZLN-Gebiet sehen aufgrund ihrer prekären Lage einfach keine andere Möglichkeit als den Widerstand.
KNA: Sicher spielt auch die Entlegenheit des Gebiets eine Rolle.
Wilhelm: Richtig. Das ist tiefster Urwald mit nahezu idealen Rückzugsmöglichkeiten. Schwierigkeiten bereiten außerdem die unübersichtlichen Loyalitätsverhältnisse. Es ist keineswegs eindeutig, wer nun zu den Zapatisten gehört und wer nicht. So geschah das berüchtigte Massaker von Acteal, bei dem paramilitärische Einheiten kurz vor Weihnachten 1997 ein ganzes Dorf mit angeblichen EZLN-Sympathisanten überfielen. 45 Menschen, darunter Frauen und Kinder, wurden völlig wahllos ermordet. Bis heute beeinflusst dieses traumatische Ereignis die Gefühlslage in der Region.
KNA: Nun amtiert seit Anfang Dezember der neue linksgerichtete mexikanische Präsident Andres Manuel Lopez Obrador. Könnte sich mit dieser veränderten Ausgangslage endlich etwas bewegen? Immerhin sollte der prominente Menschenrechtler und Priester Alejandro Solalinde der EZLN einen Brief mit einem Dialogangebot des neu gewählten Präsidenten übergeben.
Wilhelm: Dazu muss man wissen, dass zwischen AMLO und den Zapatisten nicht erst seit gestern eine tiefe gegenseitige Abneigung herrscht. Die Sache mit dem Brief war größtenteils fingiert. Entsprechend brüsk fiel die Stellungnahme der Zapatisten aus: Sie haben klargestellt, dass sie sich auch künftig nicht politisch vereinnahmen lassen wollen. Das hatte AMLO bereits im Wahlkampf immer mal wieder versucht. Aber die EZLN wollte sich seiner Kampagne nicht anschließen.
KNA: Das heißt, der Dialog liegt jetzt weiter auf Eis?
Wilhelm: Absolut. Fortschritte sind nur dann vorstellbar, wenn die neue Regierung einen Politikwechsel einleitet und die Vorgaben des Abkommens von San Andres erfüllt. Die - durchaus nachvollziehbaren - Forderungen der Zapatisten liegen jedenfalls auf dem Tisch. Und AMLO hätte die Macht, darauf einzugehen.
KNA: Welche Rolle spielt die katholische Kirche in dieser Gemengelage. Zählt sie zu den Unterstützern der EZLN?
Wilhelm: So einfach kann man das nicht sagen. Die Kirche hat eine besondere Rolle. Die Zapatisten bezeichnen sich selbst als antiklerikal, sie haben die Kirche aber immer als Vermittler gebraucht. In diesem Zusammenhang sind die Jesuiten zu nennen, die sich seit Jahren in der Indigenenpastoral engagieren. Adveniat hat schon etliche derartige Initiativen begleitet. Was das anbelangt, ist die Kirche unheimlich stark.
KNA: Was meinen Sie, müssen wir 2024 über 30 Jahre Chiapas-Konflikt sprechen?
Wilhelm: Das halte ich für sehr wahrscheinlich. In der mexikanischen Öffentlichkeit spielt die Angelegenheit derzeit keine allzu große Rolle. Ebenso wenig ist der Fokus der Weltöffentlichkeit auf Chiapas gerichtet. Entsprechend gering ist der Druck auf Mexikos Regierung, eine Einigung mit den Aufständischen zu erzielen. Irgendwie läuft es ja auch so.
Das Interview führte Alexander Pitz.