Der Bagdader Erzbischof zur Lage der Minderheiten im Irak

"Anschläge sollen die Christen vertreiben"

Nach einer Phase relativer Ruhe gab es im Irak vor wenigen Tagen Anschläge auf sieben christliche Kirchen. Vier Personen starben, 30 wurden verletzt. Der Erzbischof von Bagdad, Jean Benjamin Sleiman, im Interview über die Hintergründe der Explosionen und über die Lage der Minderheiten im Irak.

Autor/in:
Volker Hasenauer
 (DR)

KNA: Herr Erzbischof, was steckt hinter den Explosionen?
Sleiman: Die sieben Explosionen hatten zum Ziel, uns Christen weiter einzuschüchtern und den Druck zu erhöhen, aus Bagdad oder dem Irak zu verschwinden. In den vergangenen Monaten waren viele Bagdader Christen, die zuvor in den relativ ruhigen Nordirak geflohen waren, wieder in die Hauptstadt zurückgekehrt. Wir befürchten, dass jetzt wieder viele Familien in Panik fliehen werden und ihre Hoffnung auf eine Zukunft im Irak verlieren.

KNA: Wer waren die Täter?
Sleiman: Das wissen wir nicht, es hat sich niemand zu den Taten bekannt. Und es herrscht ein Klima der Straflosigkeit. Dabei bin ich nicht sicher, dass es nur um Religion geht. Es stehen mehrere Regionalwahlen an, vielleicht wollen die Täter zeigen, dass die Zentralregierung die Sicherheit nicht im Griff hat. Und es ist wichtig, diese Anschläge nicht isoliert zu sehen. Denn es gab zuletzt auch wieder mehr Anschläge auf andere Minderheiten und auf Moscheen.

KNA: Jeder zweite Christ hat nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein das Land verlassen. Geschätzte 500.000 Christen verschiedener Konfession sind geblieben. Wie geht es weiter?
Sleiman: Die Situation der Minderheiten ist sehr schwierig und wird es auch bleiben, solange das zentrale Problem unseres Landes nicht gelöst ist: Wie kann es ein friedliches Zusammenleben, eine echte Versöhnung der verfeindeten ethnischen und religiösen Gruppen im Staat geben. Wie erreichen wir eine nationale Einheit. Damit verknüpft ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Zentralregierung und den Regionen: Wollen wir einen Zentral- oder einen föderalistischen Staat? Diese Probleme sind nicht gelöst.

KNA: Was bedeutet dies für den Lebensalltag der Christen und anderer Minderheiten?
Sleiman: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Viertel, in die sich Christen nicht trauen können, weil sie von fundamentalistischen Muslimen kontrolliert werden. Es gibt Gegenden mit einem hohen psychologischen Druck, sich der muslimischen Mehrheit anzupassen. Es gibt aber auch Inseln der Freiheit, wo ein friedliches Leben der verschiedenen Gruppen miteinander möglich ist, so in einigen Vierteln Bagdads oder auch im Nordirak.

KNA: Mit Blick auf das ganze Land sehen sie aber vorsichtige Fortschritte?
Sleiman: Ja, allgemein spüre ich eine Besserung der Lage, hin zu mehr Sicherheit, aber das heißt nicht, dass der Irak von der Gewalt geheilt wäre. Noch immer versuchen politische Gruppen ihre Ziele mit Anschlägen und Gewalt durchzusetzen.

KNA: Welche Konsequenzen hat dies?
Sleiman: Allgegenwärtige Angst. Und diese Angst verhindert jede Zukunftsplanung. Wer Angst hat, tut sich schwer, sein Leben zu organisieren. Viele Familien haben in Panik das Land verlassen, ohne zu wissen, wie es weitergehen soll. Und stellen dann zum Beispiel nach einem Jahr in einem syrischen Flüchtlingslager fest, dass sie auch dort keine Zukunftsperspektive haben.

KNA: Nach monatelangen Debatten haben sich Deutschland und die EU für die dauerhafte Aufnahme von irakischen Flüchtlingen entschieden.
In Deutschland sind bislang 730 von geplanten 2.500 Personen angekommen. Wie bewerten Sie diese Strategie?
Sleiman: Ich bin allen dankbar, die Irakern helfen. Aber die jetzige Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland und der EU ist problematisch. Es gibt Iraker, die wirklich Asyl erhalten müssen.
Menschen, die mit dem Tod bedroht werden oder so krank sind, dass sie im Irak nicht richtig behandelt werden können. Oder Familien, die getrennt wurden und wieder zusammen leben dürfen müssen. Aber die EU-Zusage, jetzt 10.000 Flüchtlinge aufzunehmen - schon mit dem Hinweis, dass es auch ein Folgeprogramm geben wird - diese Zusage verleitet Iraker zur Emigration und wirkt damit auf unsere Gesellschaft destabilisierend. Die wichtigste Hilfe aus dem Westen für den Irak muss die Unterstützung vor Ort sein. Jeder Iraker ist in seiner Heimat wichtig, um beim Aufbau des Landes mitzuhelfen.