Seit vier Jahrzehnten kommen zu einem der spektakulärsten Kriminalfälle Italiens in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen angeblich neue Enthüllungen ans Licht. Es melden sich mögliche Zeugen, werden Ermittlungen angestrengt.
Nun will sich die vatikanische Strafverfolgung des Falls annehmen. Einige Vatikanbeobachter halten das für keinen schrägen Zufall, sondern für ein Zeichen des sich verschärfenden Machtkampfs zwischen dem amtierenden Papst und seinen kurialen Gegnern.
Alles begann am 22. Juni 1983. An jenem Tag kehrte die damals 15-jährige Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II. von ihrem Musikunterricht nicht nach Hause zurück. Ihr Schicksal ist bis heute ungeklärt. In den folgenden Jahrzehnten entspannen sich um ihr Verschwinden zahllose Gerüchte und Verschwörungstheorien.
Verschiedene Theorien
Eine besagt, das Mädchen sei entführt worden, um eine Freilassung des Türken Mehmet Ali Agca zu erzwingen. Dieser hatte im Mai 1981 auf dem Petersplatz ein Attentat auf Johannes Paul II. verübt.
Spekuliert wurde auch über eine Erpressung der Vatikanbank durch eine römische Mafia-Organisation oder vatikanische Sex- und Drogenpartys, deren Opfer Emanuela geworden sein könnte. Das Gerücht, dass Emanuela abgeschieden in einem Kloster leben soll, hält sich ebenfalls hartnäckig. All dies ließ sich nie beweisen.
Hinweise auf die sterblichen Überreste des Mädchens liefen bislang ebenfalls ins Leere. Weder in dem Grab eines Mafiabosses in einer römischen Kirche, noch in denen zweier Adelsdamen auf dem deutschen Friedhof im Vatikan fanden sich Spuren von Emanuela.
Familie Orlandi kämpft weiter für Aufklärung
Seit Jahrzehnten wirbt vor allem Orlandis älterer Bruder Pietro öffentlichkeitswirksam für Aufklärung, kürzlich auch in einer Netflix-Serie.
So waren es angeblich auch die Bitten der Familie Orlandi, die nun den Vatikan auf den Plan gerufen haben. Dessen Staatsanwalt Alessandro Diddi kündigte kürzlich Ermittlungen in dem Fall an.
Er wolle alle Akten und Hinweise noch einmal überprüfen. Die zuständige italienische Behörde in Rom hatte ihre Nachforschungen 2015 ergebnislos eingestellt.
Gänswein thematisiert Orlandi in neuem Buch
In welcher Form der Vatikan in den Fall involviert sein könnte, ist offen. In dem kürzlich erschienen Buch des ehemaligen Privatsekretärs von Benedikt XVI., Erzbischof Georg Gänswein, sind Orlandi und der Kirchenstaat ein Thema - wenn auch so nichtssagend wie die bisherigen Ermittlungen. Gänswein schiebt jegliche Verdächtigungen bezüglich einer Mitwisserschaft beiseite.
Ihm selbst sei immer versichert worden, dass alles getan worden sei, um der Familie zu helfen, schreibt Gänswein. Dazu zähle auch, dass der Vatikan keine Informationen von der italienischen Justiz zurückgehalten habe.
Ein Dossier, das die ganze Wahrheit über Hergang und Täter umfasse, habe es nie gegeben. Ein Journalist hatte vor Jahren diesen Vorwurf veröffentlicht. "Ich habe nie etwas im Zusammenhang mit dem Orlandi-Fall zusammengestellt, daher wurde dieses 'Phantomdossier' nicht veröffentlicht, weil es einfach nicht existiert", so die Reaktion Gänsweins.
Plötzlicher Sinneswandel im Vatikan
In Italien rätselt man derweil über die Gründe des plötzlichen Sinneswandels im Vatikan. Seit Emanuela verschwand, bittet ihre Familie um Aufklärung. Eine Theorie für Diddis Initiative ist der Machtkampf in der römischen Kurie. Der Tod Benedikts XVI. soll interne Querelen noch einmal angeheizt haben.
Es geht um Kardinäle, die Papst Franziskus zum Rücktritt drängen wollen. Und es geht um ein Kirchenoberhaupt, das genau dies verhindern möchte. Dabei könnten mögliche Akten zum Fall Orlandi nützlich sein. Vor allem, wenn sie einige Namen von denjenigen enthalten, die dem Papst das Leben schwer machen.
Diese Theorie ist sehr italienisch. Ebenso wie die Befragung des Papst-Attentäters Agca zu den neuesten Entwicklungen. Gegenüber dem "Corriere della Sera" behauptet auch der Türke, dass im Vatikan ein "regelrechter Bürgerkrieg zwischen gegnerischen Fraktionen" herrsche.
Lebt sie in einem Kloster?
Seiner Aussage nach soll sich Emanuela nach wie vor in einem Kloster befinden, sei nie Opfer von Gewalt gewesen. "Ich muss der Führung des Vatikans öffentlich zurufen: Befreit Emanuela Orlandi aus dem Kloster, in dem sie friedlich lebt und betet. Emanuela soll ihre Familie umarmen und dann kann sie wieder in ihr Kloster zurückkehren", so der 65-Jährige.
Emanuelas Bruder Pietro zeigte sich gegenüber der Machtkampf-Theorie gleichgültig. Auf einer eilends anberaumten Pressekonferenz zu den neuen Ermittlungen erklärte er, dass die Geschichte zwar für einen internen Krieg zwischen Menschen verwendet werden könne. Wenn das aber zur Wahrheit führe, sei das in Ordnung.
Überhaupt hoffe er nun auf eine uneingeschränkte Unterstützung des Papstes bei der Aufklärung. Wie es vielleicht den Willen gegeben habe, die Geschichte aus Angst vor Konsequenzen zu verschweigen, gebe es nun vielleicht den Willen, die Geschichte abzuschließen. "Im Moment möchte ich positiv denken", so Pietro Orlandi.