Als Kind verbrachte Imtiaz Cajee die Ferien bei seiner Großmutter, doch die Tage waren nicht unbeschwert. "Ich sah mit an, wie Ma in Schmerz und Trauer über den Tod ihres Sohnes lebte. Manchmal las ich Zeitungsausschnitte, die meine Familie aufgehoben hatte, über seine Verhaftung und die Ermittlungen." Der tote Sohn, Cajees Onkel, war der Anti-Apartheid-Aktivist Ahmed Timol. 1971 stürzte er aus dem zehnten Stock einer Johannesburger Polizeistation.
Die Behörden sprachen von Suizid, wenngleich die Familie wusste: Es waren die Folterknechte des Regimes, die Timol auf den Asphalt stießen. Cajee (55) hat sich zur Aufgabe gemacht, den Tod seines Onkels zu sühnen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das sei seine "moralische Pflicht". Doch die Mission ist ein Wettlauf mit der Zeit.
Erzbischof Desmond Tutu kämpft mit den Tränen
Das Bild ging vor 25 Jahren um die Welt: Erzbischof Desmond Tutu, Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC), kämpft mit den Tränen, birgt seinen Kopf in den Armen vor sich auf dem Richterpult. Nur noch die grauen Locken und der Bischofstalar sind sichtbar.
Das Land hatte zwei Jahre zuvor die Rassentrennung überwunden, Nelson Mandela war Präsident. Doch die Apartheid war im Alltag immer noch spürbar. Was den anglikanischen Erzbischof so aus der Fassung brachte, war die Aussage eines Opfers, das detailliert beschrieb, wie es bei der Folter regelmäßig beinahe erstickt wäre.
Die TRC sollte die Verbrechen festhalten, die während der Apartheid von allen Seiten begangen wurden, ob Rassenregime oder Freiheitskämpfer. Mehr als 21.000 Opfer teilten ihre Leidensgeschichten mit der Öffentlichkeit. In vielen Fällen gewährte die TRC Amnestie; Mörder und Menschenrechtsverbrecher verwies sie an die Kläger. Doch auf Gerechtigkeit warten viele Familie ermordeter Widerstandkämpfer bis heute.
Vertuschung von Verbrechen
"In der Zeit nach der TRC ist die Post-Apartheid-Justiz eine beschämende Geschichte. Polizei und Staatsanwaltschaft kollaborierten mit den politischen Kräften, um sicherzustellen, dass der Großteil der Apartheid-Fälle unterdrückt bleibt", sagt Yasmin Sooka. 2019 schrieb die frühere TRC-Kommissarin gemeinsam mit ehemaligen Kollegen einen Brief, in dem sie Präsident Cyril Ramaphosa zur Schaffung einer Untersuchungskommission und einer Entschuldigung bei den Opferfamilien aufforderte. In etwa 300 Apartheid-Verbrechensfällen wurde bisher keine Klage erhoben. Einige Beobachter vermuten, der regierende ANC hüte sich davor, in das alte Wespennest zu stechen, aus Angst, die Delikte seiner eigenen Widerstandskämpfer offenlegen zu müssen.
Dabei beschäftige die nicht aufgearbeitete Geschichte auch das Leben in dem modernen Schwellenstaat, meint die frühere TRC-Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela. Südafrika gilt als Land mit der ungerechtesten Einkommensverteilung überhaupt; die Vergewaltigungs- und Mordrate ist hoch. "Gegenwärtige Not, Ungleichheit und Gewalt, darunter auch Rassismus und Alltagsmarginalisierung, sind verstrickt mit der Vergangenheit", so die Forscherin.
Die Zeit läuft
Imtiaz Cajee hat zwei Bücher über seinen toten Onkel geschrieben und den Fall vor Gericht gebracht. 2017 urteilte ein Richter, dass Ahmed Timols Sturz in die Tiefe kein Suizid war. Cajee hofft, mit seinem Gerechtigkeitsfeldzug etwas anzustoßen. "Bei meinem Kampf für die Wahrheit habe ich Familien im ganzen Land getroffen, die um Antworten auf den Tod ihrer Liebsten ringen." Doch die Zeit drängt: Anfang September starb der Ex-Polizist Joao Rodrigues, der letzte noch lebende mutmaßliche Folterknecht Timols, im Alter von 82 Jahren. Er wurde nie verurteilt.
"Die Zeit ist nicht auf unserer Seite", gestand kürzlich Südafrikas oberste Staatsanwältin Shamila Batohi. Auf ihr ruht die Hoffnung der Hinterbliebenen. Anders als ihre Vorgänger gilt sie als politisch unbefangen. 2019 versprach Batohi, Apartheid-Verbrechen zu priorisieren; und im Juni kündigte sie die Schaffung einer Spezialeinheit aus Polizisten und Klägern an, um die Delikte der rassistischen Vergangenheit zu ermitteln.
"Unsere Freiheit hatte einen hohen Preis", sagt Cajee. "Diese Tatsache muss unseren Politikern als ständige Erinnerung dienen und sie inspirieren, unser Land aufzubauen und die Leben der Armen zu verbessern. Darum ging es beim Freiheitskampf."