DOMRADIO.DE: Zwei Jahre ist es her, dass es in Katalonien – im Norden Spaniens – das Unabhängigkeitsreferendum gab. Die Zentralregierung in Madrid hat das nie anerkannt. Wochenlang kam es zu Protesten in den Straßen Barcelonas. Seitdem Spaniens Oberster Gerichtshof Haftstrafen gegen neun prominente katalanische Separatisten ausgesprochen hat, gibt es erneute Ausschreitungen. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, im Oktober 2017 ein von der Justiz als illegal eingestuftes Unabhängigkeitsreferendum organisiert zu haben. Seitdem gibt es jede Nacht Proteste, Autos brennen, mehrere Menschen wurden verletzt. Wie war die vergangene Nacht bei Ihnen?
Pfarrer Stephan Gras (St. Albertus Magnus, deutschsprachige Gemeinde in Barcelona): Die vergangene Nacht ist so gelaufen wie auch schon die drei Nächte vorher. Man wird mehrfach in der Nacht wach, weil man den Polizeihubschrauber kreisen hört. Wobei die Nacht auf Donnerstag für mich noch spannender war: Da teilte mir meine Sekretärin, die gegenüber der Kirche wohnt, mit, dass vor der Kirche zwei Müllcontainer und drei Autos brannten. Das war schon eine sehr schwierige Nachricht, wenn man das so direkt mitbekommt.
DOMRADIO.DE: Barcelona ist eine Touristenstadt. Viele deutsche Touristen sind da, Sie arbeiten in der deutschsprachigen Gemeinde. Was sagen die Leute, mit denen Sie sprechen?
Gras: Das ist sehr unterschiedlich. Zu den Touristen kann ich Folgendes sagen: Ich hatte für nächsten Montag einen Termin mit Mitgliedern einer Reisegruppe, die sich die Sagrada Familia anschauen wollten. Die teilten mir gestern mit, dass ihre Rundreise in Barcelona nicht Station machen werde - das sei aus Sicherheitsgründen abgesagt worden.
Was man insgesamt wahrnehmen kann: Heute Morgen kam schon in den Nachrichten im spanischen Fernsehen, dass der Umsatzes der Straßencafés auf den großen Touristenmeilen in den vergangenen Tagen um 40 Prozent zurückgegangen sind. Und in der vergangenen Nacht sind wohl auch erstmals Außenmöbel von Restaurants in Flammen aufgegangen. Das ist alles nicht gut, und es gibt jetzt wohl auch - so meldete es heute Morgen das spanische Fernsehen - eine Reisewarnung für Katalonien in den USA, Großbritannien, Frankreich und Portugal.
DOMRADIO.DE: Halten Sie die Befürchtungen für gerechtfertigt? Hat man tatsächlich Angst, auf die Straße zu gehen oder ist es übertrieben?
Gras: Tagsüber braucht man hier keine Angst zu haben, abends ist es mit Sicherheit nicht ganz ungefährlich. Am heutigen Tag traue ich mir keine Vorhersagen zu. Für heute ist ein Generalstreik angesagt, und es bewegen sich aus den unterschiedlichen katalanischen Provinzen sogenannte "Märsche für die Freiheit" auf Barcelona zu, die heute sicherlich zu einer Großkundgebung führen werden. Wie explosiv diese wird, ist schwer zu sagen.
Ich habe gestern noch mit einer Mutter aus der Gemeinde gesprochen, deren Kind auf die deutsche Schule geht. Die sagte klipp und klar: Ich lasse meine Tochter morgen nicht zur deutschen Schule fahren, die in einer Nachbarstadt liegt. Das ist mir einfach zu gefährlich.
DOMRADIO.DE: Wie sieht es mit der katholischen Kirche in Spanien aus? Was sagen die Bischöfe?
Gras: Die Bischofskonferenz hat direkt nach dem Urteil, das zu den Auseinandersetzungen geführt hat, eine Pressemitteilung auf Katalan und Spanisch herausgegeben. Sie hat darin unter anderem geschrieben, es bestehe leicht die Gefahr, dass sich in der jetzigen Situation jede und jeder angegriffen und in seiner Ehre verletzt fühle und sich die einzelnen Lager beginnen zu verschanzen.
Die Bischöfe fordern drei Dinge: Zum einen dass ein ernsthafter Dialog zwischen der spanischen und der katalanischen Regierung in Gang gesetzt werden müsse. Zweitens, dass die hiesige Bevölkerung Hoffnung für die Zukunft bekommen müsse, weil im Moment alles sehr festgefahren aussehe. Und drittens, dass der Aufbau einer sozialen und gerechten Gesellschaft vorangetrieben werde, damit die Leute wieder Mut bekommen, Ideen zu äußern.
Das Kommuniqué der Bischöfe endet mit einem Zitat aus der Osteransprache von Papst Franziskus: "Die Herausforderungen des Lebens dürfen uns nicht kalt und indifferent lassen, sondern wir müssen zu Baumeistern von Brücken und nicht von Mauern werden." Das ist kurz gefasst das, was im Kommuniqué der katalanischen Bischofskonferenz steht.
DOMRADIO.DE: Dieser Konflikt rund um Katalonien ist nicht neu. Steht die ganze Bevölkerung dahinter oder ist es eher eine kleine laute Minderheit, die sich zu Wort meldet?
Gras: Katalonien ist tief gespalten. Diejenigen, die sich jetzt so deutlich zu Wort melden und auf die Straße gehen, sind eher eine kleine Minderheit. In der vergangenen Nacht sind auch erstmals Gruppen der extremen Rechten auf der Straße gewesen. Und da gab es auch wohl einige kleinere Scharmützel. Insgesamt sieht es so aus, dass in Katalonien, in den Provinzen Barcelona und Tarragona an der Küste, bei den letzten Wahlen rund 66 Prozent der Bevölkerung gegen separatistische Parteien gewesen sind. Diese 66 Prozent haben Parteien gewählt, die die Einheit mit Spanien vertreten.
Katalonienweit allerdings steht es ungefähr 50:50. Daraus kann man ersehen, dass in den eher ländlich geprägten Provinzen die Anhänger einer Unabhängigkeit Kataloniens eine deutliche Mehrheit haben.
DOMRADIO.DE: Heute ist Generalstreik. Was denken Sie - wie wird es langfristig weitergehen?
Gras: Der Konflikt wird nicht so schnell verschwinden. Ich glaube, es wird vor allem darum gehen müssen, eigene Positionen nicht festzufahren, sondern in einen Dialog zu gehen. Ich hoffe sehr, dass das gelingt. Denn wenn der Dialog nicht zustande kommen sollte, dann wird es schwierig. Vor einigen Tagen hat der katalanische Ministerpräsident Quim Torra ein Ende der Gewalt gefordert. Das ist allerdings erst erfolgt, nachdem in Madrid der Ruf laut wurde, vielleicht doch die katalanische Regierung abzusetzen, weil sie sich bisher nicht klar geäußert habe. Da muss schon noch ein bisschen mehr Bewegung von beiden Seiten mit reinkommen.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.