DOMRADIO.DE: Der Rabbiner der Kölner Synagogengemeinde, Yechiel Brukner, wurde in Bussen und Bahnen der Stadt massiv beschimpft. Ist das auch ein Thema in Ihrer Gesellschaft, dass der Rabbiner nicht mehr Straßenbahn fahren möchte?
Prof. Dr. Jürgen Wilhelm (Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit): Ja, wir kennen das Thema. Es wurde bei uns im Vorstand vor anderthalb oder zwei Wochen vorgetragen. Es ist wohl ein Faktum. Es ist natürlich eine sehr deprimierende und niederschmetternde Erfahrung, die der Mann, der bürgernah sein wollte und auf diese Attribute eines normalen Rabbiner-Daseins wie eines Dienstwagens verzichten wollte, sich das nicht mehr zumuten möchte. Dafür habe ich volles Verständnis.
Und es bedrückt mich vor allen Dingen als Kölner – obwohl ich dieses Tolerante, was die Kölner sich so gerne karnevalistisch zuschreiben, schon öfter kritisch gesehen habe. Ich weiß es nicht und ich möchte es nicht hoffen, aber ich fürchte, dass Köln auf dem Weg ist nicht viel anders zu werden als viele andere Städte und Gemeinden in Deutschland.
DOMRADIO.DE: Wir behaupten ja sehr gerne, super tolerant zu sein. Manche sagen sogar, dass es auch keine Nazis in Köln gegeben habe. Das steht unter anderem schon mal auf diversen Tagesordnungen in dieser unserer Stadt. Ist das alles Quatsch?
Wilhelm: Nein, es gibt sicher eine größere Offenheit, eine Liberalität, die ja auch von den entscheidenden Menschen hier in der Stadt sicher nicht nur verbalisiert wird, sondern auch versucht wird vorzuleben. Wir tun das mit unserer Kölnischen Gesellschaft auch – wir sind ein Teil dieser Stadt, mit fast 1000 Mitgliedern die größte Stadtgesellschaft in Deutschland. Wir versuchen über Multiplikatoren wie Lehrer, die am gleichen Thema arbeiten, dafür zu sorgen, dass es eben nicht ein Ansatz ist, der nur im Karneval Bedeutung hat. Aber es ist schwer.
DOMRADIO.DE: Sie wurden selbst Opfer: Ihr Briefkasten ist mit SS-Runen beschmiert worden. Beobachten Sie in Ihrem Umfeld, dass Antisemitismus zunimmt?
Wilhelm: Ja, eindeutig. Mir persönlich ist es bisher nicht so ergangen, aber es gibt dafür entsprechende empirische Untersuchungen – sehr zuverlässige, die über einige Jahre gingen. Ich habe am 9. November und bei anderen Gelegenheiten immer wieder schon seit Jahren gesagt: Dieser Antisemitismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Er ist keineswegs nur ein Phänomen der Flüchtlinge, die ihn mit ihrem muslimischen und teilweise militant antisemitischen Hintergrund in die Gesellschaft hineingetragen haben. Den gibt es auch – das darf man nicht verschweigen – aber es ist keinesfalls nur auf die Flüchtlinge beschränkt. Es wäre ganz falsch, das so zu sehen. Es ist, salopp formuliert, wieder salonfähig geworden, radikal und gewaltbereit antisemitisch zu sein.
DOMRADIO.DE: Benutzen wir die Geflüchteten auch als Entschuldigung?
Wilhelm: Klar, es gibt da ja eine Partei, die nun leider auch im Deutschen Bundestag sitzt und das ganz systematisch und brutal ausnutzt. Ich bin eben auf dem Weg an Plakaten der AfD vorbeigefahren. Die sind an rassistischen Parolen, an Gemeinheiten, an Fehlern und an ganz bewussten Tabubrüchen nicht zu überbieten.
Es ist einfach ungeheuer und es beschämt mich zutiefst, dass diese Typen jetzt im Europawahlkampf auch noch Werbung betreiben und ganz eindeutig wird: Dieser Antisemitismus, der auch mit einem Anti-Islamismus vorangetrieben wird, ist ganz selbstverständlich und einseitig interpretiert. Die gesellschaftliche Realität sieht aber nun anders aus.
DOMRADIO.DE: Sie hatten kürzlich im Rahmen der "Woche der Brüderlichkeit" als Gastredner den langjährigern Israelkorrespondenten Richard C. Schneider. Er hat unter anderem gesagt: "Antisemitismus ist Teil der europäischen Kultur". Was heißt das, können wir den gar nicht mehr wegkriegen?
Wilhelm: Dieser Satz hat mich auch irritiert. Ich mache ihn mir auch nicht zu eigen. Historisch korrekt ist sicher, dass der Antisemitismus natürlich ein Ergebnis der Verfolgungen durch die christlichen Mehrheitsgesellschaften über fast 2000 Jahre ist. Das ist historisch einwandfrei und auch gar nicht zu widerlegen – und das bestreitet ja auch niemand.
Dass er aber sozusagen zur DNA und begrenzt zu Europa gehört, das kann ich so nicht sehen. Der Vergleich wäre sicher so zu formulieren, dass man sagt: Es gibt einen latenten Widerstand und auch eine offene Gewaltbereitschaft gegen die Minderheiten jüdischer Menschen über die Jahrhunderte. Das ist sicher immer so gewesen, und auch das Christentum ist häufig instrumentalisiert worden, wie vieles andere auch. Aber Schneider ist Schneider und ich sage es ein bisschen differenzierter.
DOMRADIO.DE: Martin Niemöller hat damals einen wunderbaren Spruch geprägt: "Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen. Ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen. Ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen. Ich war ja kein Gewerkschaftler. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte." Martin Niemöller, erst fand er die Nazis gut, dann war er im Konzentrationslager Sachsenhausen und wurde allmählich zum Widerstandskämpfer. Dem wird dieses Wort zugeschrieben. Was denken Sie, wenn Sie das hören?
Wilhelm: Er berührt mich immer wieder sehr persönlich. Er ist mir natürlich seit Jahrzehnten bekannt. Ich bin Protestant. Meine Familie mütterlicherseits ist von den Nazis verfolgt worden und dieser Satz von Niemöller wurde bei uns zu Hause immer wieder als wunderbare, leider aber auch schrecklich wahre Geschichte zitiert.
DOMRADIO.DE: Im Grunde genommen ist das eine ganz konkrete Aufforderung an das, was wir jetzt hier und heute zu tun haben. Oder?
Wilhelm: Ja absolut, denn es nützt ja nichts den Zustand zu beschreiben. Der ist allen, die ein bisschen offen sind, zu hören und zu lesen, mittlerweile bekannt. Nämlich, dass der Antisemitismus – wie wir formulieren – in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Es ist keineswegs ein Randphänomen, das wird ja auch von einer Partei in dieser Republik kräftig geschürt. Die Frage ist, was wir tun können.
DOMRADIO.DE: Was tut denn die Gesellschaft für Christlich-Jüdischen Zusammenarbeit?
Wilhelm: Die Gesellschaft arbeitet zum Beispiel mit Lehrerinnen und Lehrern zusammen, um diese Mulitplikationswirkung auszubauen und um insbesondere an Schüler heranzukommen. Wir stärken diese Lehrerinnen und Lehrer mit Material, wir unterrichten sie, wir bieten Workshops an. Denn es ist immer so, dass Pädagogen nur das Thema unterrichten, indem sie sich sicher fühlen. Auch viele Erwachsene fühlen sich in dem Thema nicht unbedingt sicher. Also versorgen wir sie. Wir bieten Schulmaterial, Lehrermaterial, Unterrichtsmaterial an. Dasselbe machen wir mit Lehramtsstudierenden, wir arbeiten mit dem Lehrerseminar zusammen. Darüber hinaus erreichen wir ganz viele Menschen durch viele andere Veranstaltungen. Unsere ehrenamtliche Gesellschaft mit etwa 1.000 Mitgliedern hat im letzten Jahr immerhin 55 Veranstaltungen auf die Beine gestellt – zum Teil mit Partnern in Köln. Dadurch erreichen wir doch recht viele Menschen, aber nie genug.
DOMRADIO.DE: Im Moment gibt es auch die jüdischen Kulturtage. Da gab es in Leverkusen eine Organisation namens "Rent a Jew", wo jüdische Menschen zu anderen Menschen gehen, Ist das ein guter Weg?
Wilhelm: Das klingt so ein bisschen nach Eventmanagement, aber warum nicht? Es gibt sicher Schwellenangst. Auch ich stelle immer wieder fest, wenn wir zu einem Besuch in der Synagoge einladen oder Veranstaltungen dort machen, ist die Neugier auf die Synagoge tatsächlich groß. Im Kölner Dom war wahrscheinlich jeder Kölner schon ein bis 450 Mal, aber in der Synagoge ist es doch noch etwas anderes. Da schwingt – und das ist ja nichts Schlechtes – auch noch das schlechte Gewissen nach der Schoah mit, aber leider nicht bei genügend Menschen.
DOMRADIO.DE: Ich würde gerne kurz noch einmal auf den Fall des Rabbiners zurückkommen, der in der Straßenbahn verbal in Köln attackiert worden ist. Was mache ich, wenn ich so etwas mitbekomme?
Wilhelm: Aufstehen und verbal dagegenhalten, selbstverständlich nicht schweigen oder wegschauen. Sie werden schnell Solidarität erfahren, wenn jemand attackiert wird. Das gilt nicht nur für den Rabbiner mit antisemitischen Sprüchen, das gilt auch für alles andere. Also ein bisschen Zivilcourage – wie Joseph Kennedy das vor 60 Jahren schon genannt hat – würde wahrscheinlich helfen.
Das Gesrpäch führte Uta Vorbrodt.