Der Psychotherapeut Wunibald Müller über den Missbrauchsskandal

"Wir laufen Gefahr, uns unglaubwürdig zu machen"

Der katholische Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller fordert als Konsequenz aus dem Missbrauchsskandal in der Kirche einen Dialog über Tabuthemen wie Sexualität, Homosexualität und den Zölibat. Im Interview plädiert der Leiter des Münsterschwarzacher Recollectio-Hauses für eine rasche Entschädigung der Opfer.

 (DR)

KNA: Herr Müller, wann dämmerte Ihnen, welches Ausmaß die Missbrauchsfälle in der deutschen katholischen Kirche annehmen würden?

Müller: Mir war schon in den 1990er Jahren klar, dass wir in Deutschland mit sexuellem Missbrauch in der Kirche konfrontiert werden und dass wir weit mehr Fälle haben, als die offizielle Seite wahrhaben wollte. Deshalb hat mich die jüngste Entwicklung nicht überrascht, einmal abgesehen von der Vielzahl der Opfer.



KNA: Ist schon das volle Ausmaß bekannt?

Müller: Nein, weil viele Opfer weiter nicht darüber sprechen. Auf Täterseite ist es tatsächlich so, dass die meisten Fälle 20 bis 40 Jahre zurückliegen. Der Rückgang in der Zeit danach resultiert wohl aus Veränderungen in der Priesterausbildung



KNA: Haben die Bischöfe ihre Hausaufgaben erledigt?

Müller: Bei den unmittelbaren Konsequenzen ja, etwa durch die verbesserten Leitlinien. Mit dem Trierer Bischof Stephan Ackermann gibt es nun auch einen Zuständigen, dies hatte ich schon immer gefordert. Auch die Präventionsmaßnahmen einzelner Diözesen sind gut. Wichtig wäre jetzt, den Dialog über Tabuthemen ernsthaft zu führen: Sexualität, Homosexualität, Zölibat.



KNA: Wie hängen diese mit der Missbrauchsproblematik zusammen?

Müller: Was im Zusammenhang mit dem Missbrauch ans Tageslicht kam, ist nur ein Beispiel dafür, zu welchen Deformationen und Verwerfungen es im sexuellen Bereich kommen kann, wenn mit der Sexualität nicht offen, realistisch, klar, erwachsen umgegangen wird. Die Kirche muss endlich die Sexualität aus der Dunkelkammer herausholen, wo sie oft ein unwürdiges Leben fristet. Weiter muss sie sich entschiedener mit Klerikalismus in ihren eigenen Reihen auseinandersetzen.



KNA: Inwiefern?

Müller: Der Fokus klerikaler Aufmerksamkeit galt in erster Linie dem Ansehen der Kirche. So sündhaft und verbrecherisch ein Verhalten von Priestern auch betrachtet wurde, es galt dennoch damit so umzugehen, dass das Ansehen der Kirche, ihre "Heiligkeit" keinen Schaden nimmt.

Die Opfer traten dabei wie von selbst in den Hintergrund. Hier ist offensichtlich, dass ein solches Denken und Verhalten nicht nur als Sünde und Schuld einzelner Personen zu sehen ist, sondern als strukturelle Sünde und Schuld der Kirche selbst.



KNA: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Müller: Die Kirche muss noch mehr von dem "Gift" des Klerikalismus, das in die katholische Kirche eingesickert ist, befreit werden. Das heißt nicht, nicht länger "Ja" zu sagen zu Papst, Bischöfen, Priestern, Weihevollmacht und so weiter. Sie gehören selbstverständlich zur katholischen Kirche. Nichts verloren haben in ihr aber Privilegien, Sonderbehandlungen, Anspruchsdenken oder klerikales Gehabe, bei dem geistliche Vollmacht missbraucht wird, um Macht und Kontrolle über andere auszuüben.



KNA: Der Bericht der vom Erzbistum München-Freising beauftragten Rechtsanwältin hat ergeben, dass einige Mitarbeiter des kirchlichen Apparats wegen ihrer Veranlagung erpressbar waren. Ist der Umgang mit Homosexuellen ein strukturelles Problem der Kirche?

Müller: Da hilft nur Wahrhaftigkeit. Die Kirche müsste deutlich machen: Sofern sie das nicht in sexuellen Beziehungen ausleben, ist es in Ordnung, dass es in der Priesterschaft homosexuelle Männer gibt. Dann wäre ein ehrlicherer Umgang mit dem Thema möglich. Rom sagt aber klar, dass solche Menschen überhaupt nicht geweiht werden dürfen. Das kann dazu führen, dass jemand, der homosexuell ist und Priester werden will, vor sich selbst und nach außen hin seine Homosexualität verleugnet und einhergehend damit sich nicht auf eine reife Weise mit seiner Sexualität auseinandersetzt.



KNA: Aber viele wissen doch, dass es homosexuelle Priester gibt.

Müller: Wir laufen bei diesem Thema wie beim Zölibat Gefahr, uns unglaubwürdig zu machen. Ich denke an die Priester, die angetreten sind mit der Absicht, zölibatär zu leben, sich aber nicht dazu in der Lage sehen, tatsächlich zölibatär zu leben. Ein entscheidender Lebensbereich wird dann in einem Dunkelraum gelebt, was zu spirituell und moralisch fragwürdige Verhaltensweisen und Arrangements führen kann, die die Glaubwürdigkeit der Betreffenden und der Kirche untergraben können.



KNA: Manche sehen die Kirche bei der Missbrauchs-Aufarbeitung in einer Vorreiterrolle gegenüber anderen Organisationen wie Sportvereinen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Müller: Von den Leitlinien der Kirche kann sich mancher ein Stück abschneiden. Skeptisch bin ich, wenn sich Kirche damit schmückt. Dabei wird übersehen, dass Missbrauch in der Kirche durch ihren eigenen moralischen Anspruch besonders schwer wiegt.



KNA: Die Kirche wird nicht die Wünsche aller Opfer zufriedenstellen können. Wie sieht ein angemessener Umgang aus?

Müller: Bischöfe gehen auf die Opfer zu - da hat sich viel getan. Der Opferschutz steht im Mittelpunkt. Die Menschen erwarten weiterhin eine finanzielle Entschädigung, auch wenn das den Schaden nicht wiedergutmachen kann. Bauchschmerzen hätte ich, sollten die Zahlungen nach der Schwere der Taten abgestuft werden. Wer will das ermessen? Eine zügige Entscheidung in Deutschland tut not. Sonst riskiert man, dass Opferverbände den Papst bei seinem Besuch im September mit dieser offenen Frage konfrontieren.



Interview: Christian Wölfel