Ein Spaziergang über die Geschäftsstraße Carrera 15 im Herzen Bogotas vermittelt einen Eindruck von dem ganzen Ausmaß der Pandemie: unzählige Leerstände von Geschäftslokalen. Während sich die großen Ketten irgendwie über Wasser halten konnten, hat es die kleinen Ladenbesitzer gnadenlos getroffen. Trotzdem könnte die kolumbianische Wirtschaft laut Medienberichten in diesem Jahr um fünf Prozent wachsen, trotz Generalstreik und Straßenblockaden. Ein Aufschwung, den das von der Pandemie schwer gebeutelte Land dringend gebrauchen könnte. Auch weil es die humanitäre Herausforderung der Migrationsbewegung aus dem Nachbarland Venezuela stemmen muss.
Flüchtlingshilfe
Die internationale Staatengemeinschaft scheint das Problem endlich erkannt zu haben; eine Geber-Konferenz vergangene Woche brachte die Zusage von mehreren hundert Millionen Euro für die venezolanischen Flüchtlinge in der Region. Jetzt muss das Geld allerdings auch fließen.
Brutale Polizeigewalt
Kolumbien befindet sich nach dem Ausbruch der Sozialproteste Ende April in einem Schwebezustand. Entzündet hatten sich die Proteste an einer inzwischen zurückgenommenen Steuerreform. Die Gespräche zwischen Streikkomitee und Regierung verlaufen derzeit im Sande, die kolumbianische Jugend fordert tiefgreifende Veränderungen, wird aber kaum gehört und ist in den Gesprächen nicht wirklich repräsentiert. Die Regierung des rechtsgerichteten Präsidenten Ivan Duque versucht, mit gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen ihren Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, doch die haben das Vertrauen verloren, seit die überwiegend friedlichen Demonstrationen mit brutaler Polizeigewalt niedergeschlagen wurden.
Kirche fordert Dialog
Die katholische Kirche im Land fordert nun Streikkomitee und Regierung auf, die stockenden Gespräche wieder aufzunehmen. Die Wiederherstellung der Lebensbedingungen, Bemühungen, damit gerade junge Menschen ihre Potenziale, vor allem ihre Beschäftigungsfähigkeit, entfalten können, seien Ziele, die auf dem Weg eines Dialogs erreicht werden könnten, mahnte Prälat Hector Fabio Henao - und rief Regierung und Streikende zur Rückkehr an den Verhandlungstisch auf. Er begleitete die direkten Gespräche als Beobachter für die Kirche.
Ein Autobombenattentat in Cucuta, das vor wenigen Tagen in einer Kaserne mehr als 30 verletzte Soldaten und Mitarbeiter forderte, hat die Stimmung noch einmal angeheizt. Die von der Regierung bezichtigte marxistische ELN-Guerilla weist jede Verantwortung zurück.
Menschenrechtsverletzungen und tote Demonstranten
Wie ein Damoklesschwert schwebt die Aufarbeitung der Polizeigewalt während der Sozialproteste über der Regierung. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) verfügt nach eigenen Angaben über aussagekräftige Beweise, dass im Rahmen der Proteste bislang 20 Demonstranten oder unbeteiligte Passanten getötet wurden. "Wir haben jeden Fall mit Beweisen aus erster Hand dokumentiert", zitierte die Tageszeitung "El Espectador" Jose Miguel Vivanco, Amerika-Direktor von HRW.
Es lägen medizinische Befunde vor, Aussagen von Zeugen, Familienangehörigen, Anwälten; darüber hinaus seien Video-Aufnahmen verifiziert worden. Auf Twitter veröffentlichte Vivanco die Namen der Opfer. Darüber hinaus seien auch zwei Polizisten und ein Ermittlungsbeamter von Demonstranten getötet worden.
Gespaltene Nation
Dass sein Tweet weit über 10.000 Mal weiterverbreitet wurde, zeigt, wie sehr ein Teil der kolumbianischen Gesellschaft auf die Aufklärung der Polizeigewalt drängt. Zwar hat Duque auch eine Polizeireform angekündigt, doch bei den Kritikern der Regierung ist das Vertrauen in die Institution zerstört. Es gibt in Kolumbien allerdings auch einen großen Bevölkerungsanteil, der zwar die Proteste gutheißt, die volkswirtschaftlich gefährlichen Straßenblockaden aber rundweg ablehnt, weil sie die Wirtschaft inmitten der Pandemie zusätzlich belasteten.
Wie es weitergeht, weiß niemand. In gut einem Jahr wird in Kolumbien gewählt. Duque darf gemäß der Verfassung nicht mehr antreten und ist ohnehin stark angeschlagen. Die Krise dürfte sich nun in den beginnenden Wahlkampf übertragen.