Der scheidende westfälische Präses Buß über seine Amtszeit

Gerechtigkeit und Reformen

Am Sonntag wird in Bielefeld Alfred Buß als westfälischer Präses in den Ruhestand verabschiedet. Gerechtigkeitsfragen und die Zukunft der Kirche haben nach eigenen Worten seine achtjährige Amtszeit geprägt. Ein Bilanz-Interview zu globalen Krisen, Strukturreformen und zur Ökumene.

 (DR)

epd: Welche Themen waren Ihnen in Ihrer Amtszeit wichtig?

Buß: Ein wichtiges Thema gleich zu Beginn war die Globalisierung - die Kirchen der armen Länder hatten uns geschrieben, wie sie darunter leiden. In einer Denkschrift zur Globalisierung haben wir frühzeitig aufgezeigt, was auf uns zukommt, wenn die entfesselten Finanzmärkte so weitermachen. Das war fast prophetisch. Zum 75. Jubiläum der Bekenntnissynode von Barmen 2009 haben wir uns für den Erhalt des Sozialstaates und die Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft stark gemacht, hin zu einer sozialen und ökologisch orientierten Marktwirtschaft, die auch die globalen Entwicklungen in den Blick nimmt. Wichtig waren uns in diesem Zusammenhang die Themen Kinderarmut hierzulande, der weltweite Klimawandel und die Bändigung der Finanzmärkte. In der zweiten "Halbzeit" ging es schwerpunktmäßig um die Frage, was uns als Kirche ausmacht. Daraus entstand beispielsweise das Jahr der Taufe. Quer durch alle Bereiche zog sich in den acht Jahren die Frage nach Gerechtigkeit.



epd: Wie fällt Ihre Bilanz des Reformprozesses in der westfälischen Kirche aus?

Buß: Die 1999 im Reformpapier "Kirche mit Zukunft" beschriebenen Prognosen sind eingetreten: Die Kirche wird kleiner und sie hat eine Akzeptanz- und Vermittlungskrise. Dennoch gilt noch immer der Satz vom Beginn meiner Amtszeit: Wir sind als Kirche kein Abbruchunternehmen, sondern wir setzen uns nur kleiner. Wie passen das Kleid an und machen es dabei schön, so dass es auch die nächsten 30 Jahre dienlich ist. Wir müssen die Menschen wieder vom Evangelium überzeugen, dem tragenden Grund im Leben und im Sterben. Eine Kirche, die keinen missionarischen Anspruch hat, bekommt Herzrhythmus-Störungen. Diese Erkenntnis hat uns zu einem Kirchbild mit zentralen Handlungsfeldern wie Gottesdienst und Kirchenmusik, Seelsorge und Beratung, Diakonie und gesellschaftliche Verantwortung, Bildung und Erziehung sowie Ökumene und Weltverantwortung geführt. Auch die Aufgabenverteilung haben wir stärker in den Blick genommen: Die einzelne Gemeinde muss nicht alles machen, sondern nur das, was sie gut kann. Die Mittelebene ist wichtiger geworden. In der Hälfte der Gestaltungsräume in Westfalen stehen absehbar Vereinigungen an. Der Reformprozess hat zudem wichtige Instrumentarien hervorgebracht wie zum Beispiel das Kirchenkreisleitungsgesetz. Auf landeskirchlicher Ebene haben wir durch die Zusammenführung von Einrichtungen eine sehr leistungsfähige Ämterlandschaft. Unser Institut für Kirche und Gesellschaft mit über 40 Mitarbeitern und viel Know-how, mit dem kirchlichen Umweltmanagement Grüner Hahn, dem Projekt "Zukunft einkaufen" und vielen wegweisenden Initiativen ist in der EKD einmalig. Zudem haben wir ein Pastoralkolleg und ein Predigerseminar für vier Landeskirchen. Die Diakonie in Rheinland, Westfalen und Lippe hat sich zusammengeschlossen. All diese Strukturreformen haben uns aus der Kleinteiligkeit herausgeführt.



epd: An welchem Punkt würden Sie sich mehr Bewegung wünschen?

Buß: Wir sind ja gerade in der Reformationsdekade, die mit Themenjahren auf das 500. Jubiläum der Reformation im Jahr 2017 zugeht. Ich könnte mir künftig gut ein "Jahr des Gottesdienstes" vorstellen, in dem die zentrale Rolle des Gottesdienstes für das evangelische Kirchenverständnis herausgestellt wird. Bei allen Innovationen ist noch zu wenig erkennbar, dass der Gottesdienst das Herzstück der evangelischen Kirche ist. Ich erhoffe mir von einem solchen Themenjahr kreative Impulse, ähnlich wie beim Jahr der Taufe. Wir müssen nicht das Rad neu erfinden - es gibt hier bereits viel Kreativität. Wir sollten aber noch intensiver fragen: Wie erreichen wir Menschen, die nicht in unsere üblichen Gottesdienste kommen? Welche Gottesdienst-Formen können wir anbieten, bei denen Leute sagen: Das habe ich bisher vermisst? Dazu gehören auch unterschiedliche Musikstile. Was würde es bewirken, wenn wir Kirche konsequent vom Gottesdienst her verstehen, sowohl in liturgischer Form als auch als Gottesdienst im Alltag der Welt?



epd: Neben dem Christentum spielen heute in Deutschland auch andere Religionen eine wichtige Rolle, etwa der Islam. Was bedeutet das für die Kirchen?

Buß: Vielfalt an sich ist keine Bedrohung - auch die Schöpfung ist vielfältig. Es liegt sogar eine Riesenchance darin, dass wir als Christen unseren Glauben wieder begründen müssen. Wir sind in einer ähnlichen Rolle wie seinerzeit der Apostel Paulus: Wir müssen einer Welt, für die dies unbekannt oder zumindest nicht selbstverständlich ist, elementar deutlich machen, was unseren Glauben ausmacht. Das Großartige des christlichen Glaubens ist ja, dass wir nicht einfach an ein höheres Wesen glauben, sondern dass nach unserer Überzeugung Gott in Jesus Mensch geworden ist. Er teilt auch den Tod und das ewige Leben mit uns. Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig, wie es in der Jahreslosung für 2012 heißt. Es kommt darauf an, dass wir Glaube, Liebe und Hoffnung in die Welt tragen, indem wir diese großartige Botschaft vermitteln - indem wir darüber sprechen, aber auch indem wir sie leben und ausstrahlen.



epd: Wie kann die Ökumene vorankommen?

Buß: Zunächst stelle ich fest, dass in den vergangenen Jahrzehnten viel erreicht wurde. Was die Fortschrittsmöglichkeiten auf offizieller Ebene angeht, mache ich mir aber keine Illusionen: Das Verständnis von Kirche und Amt ist so verschieden, dass wir in den kommenden Jahren kaum wirklich als Kirchen zusammenkommen können. Wo uns die Verkündigung von Gottes Wort und die Feier der Sakramente genügen, spielen für die katholische Kirche das Bischofsamt und der Papst als oberstes Lehrorgan eine zentrale Rolle. An der Basis, wo Protestanten und Katholiken miteinander leben, passiert dagegen sehr viel. Es gibt wirklich gelebte ökumenische Gemeindepartnerschaften. Andererseits gibt es mancherorts mittlerweile so wenige katholische Priester, dass der evangelische Pfarrer gefragt wird, ob er die Beerdigung übernehmen kann. Im ökumenischen Alltag ist so viel in Bewegung, dass manches theologische Lehrgespräch der Leitenden von der Wirklichkeit überholt wird.



epd: Was ist vor allem nötig, damit es bei uns, aber auch weltweit mehr Gerechtigkeit gibt?

Buß: Die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt zu - national, aber auch weltweit. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die mächtigen Finanzmärkte von der Realwirtschaft abgekoppelt sind und ein Eigenleben führen. Hier muss erheblich mehr reguliert werden, etwa durch eine Finanztransaktionssteuer. Zu Ungerechtigkeit tragen aber auch globale Krisen bei, die bei uns viel zu wenig im Blick sind. Dazu zählt der Klimawandel, der sich schon heute dramatisch auswirkt. Beispielsweise wird Bangladesch zweimal im Jahr überschwemmt, der afrikanische Kontinent wird von Dürren heimgesucht. Hier bin ich froh über den deutschen Atomausstieg und hoffe, dass wir Vorreiter sein können in grüner Technologie und Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen. Kaum zur Kenntnis genommen wird auch die Lebensmittelkrise in armen Ländern. Durch den Klimawandel und Spekulationen steigen die Lebensmittelpreise, Bauern werden von ihren Ländern vertrieben oder können von ihren Erträgen nicht mehr leben. Diesen schlimmen Entwicklungen müssen wir dringend mehr Aufmerksamkeit widmen und entschlossen gegensteuern. Ähnliches gilt bei uns für das Thema Kinderarmut. Hier haben wir als westfälische Kirche mit einer Kampagne und mehreren Runden Tischen immerhin einiges in Bewegung bringen können.



Das Gespräch führten Holger Spierig und Ingo Lehnick.