KNA: Die SPD-Bildungssenatorin Sandra Scheeres will über den Weg einer Verfassungsbeschwerde erreichen, dass das Berliner Neutralitätsgesetz vom Bundesverfassungsgericht als grundgesetzkonform bestätigt wird. Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten ein?
Prof. Dr. Georg Essen (Direktor des Instituts für Katholische Theologie an der Berliner Humboldt-Universität [HU]): Ich denke nicht, dass das Bundesverfassungsgericht hinter sein Urteil von 2015 zurückfallen wird. Danach dürfen religiöse Symbole bei Lehrkräften nur dann verboten werden, wenn sie nachweislich den Schulfrieden konkret bedrohen. Eine nur abstrakte Bedrohung reicht nicht.
Es gilt, dass auch eine Lehrerin mit Kopftuch das Grundrecht auf Religionsfreiheit für sich in Anspruch nehmen kann. Das Neutralitätsgesetz in seiner heutigen Form, das religiöse Symbole und Kleidungsstücke unter anderem bei Lehrkräften verbietet, kann meines Erachtens so keinen Bestand haben.
KNA: Ist bei diesem politisch umstrittenen Thema die Expertise der neuen - benachbarten - Institute für Katholische und für Islamische Theologie gefragt?
Essen: Ja, das ist sie. Auch wenn man zunächst denken könnte, es wäre im Blick auf das umstrittene Kopftuch primär ein Thema des Instituts für Islamische Theologie. Aber es geht ganz grundsätzlich um die Frage nach der öffentlichen Präsenz religiöser Symbole in der pluralen Gesellschaft. Hier sind an der HU alle Theologien gefragt, die christlichen wie die islamische.
KNA: Die Verteidiger des Neutralitätsgesetzes verweisen auf fundamentalistische Strömungen bei muslimischen Berlinern, die sich von einer Lehrerin mit Kopftuch bestätigt fühlen könnten. Was sagen Sie zu diesem Argument?
Essen: Es ist nicht empirisch belegt, ob das so zutrifft. Deshalb ist es gefährlich, wenn eine bloße Vermutung zur Begründung dafür wird, ein Grundrecht auszuhebeln. Auch wissen wir nicht, was einen derartigen Konflikt tatsächlich auslöst. Handelt es sich tatsächlich um Religionskonflikte oder spielen Migrationshintergründe oder Identitätsprobleme pubertierender Machos eine Rolle?
KNA: Wie verträgt sich Ihre Sicht mit dem weltanschaulich neutralen Staat?
Essen: Es ist ein großes Missverständnis zu meinen, dass der weltanschaulich neutrale Staat die Aufgabe hat, Religion aus der Gesellschaft zu verdrängen. Es ist nicht seine Aufgabe, allein die negative Religionsfreiheit zu schützen.
Er muss stattdessen auch die positive Religionsfreiheit beispielsweise von Lehrerinnen mit Kopftuch schützen, sofern sie sich im Rahmen ihrer schulischen Tätigkeit an staatliche Gesetze halten. Beim Schutz religiöser Vielfalt dürfen die Schulen nicht ausgeschlossen werden, weil sich in ihnen die gesellschaftliche Wirklichkeit spiegeln.
KNA: In anderen Staaten wie Frankreich wird die staatliche Neutralität viel strenger ausgelegt als hierzulande. Was spricht dagegen?
Essen: Wenn der Staat einseitig nur religionslose Menschen schützen würde, könnte es dazu führen, dass religiöse Menschen in der öffentlichen Symbolwelt nicht mehr vorkommen. Es darf nicht sein, dass immer dann, wenn es einen Konflikt gibt, religiöse Menschen zurückstecken müssen.
Wenn Sie so wollen, kommt es dem Staat in der pluralistischen Gesellschaft zu, den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus zu schützen. Es wäre deshalb gut, wenn auch unsere säkularen Zeitgenossen pluralismusfähig werden. Es hat niemand einen Anspruch, von der Weltsicht anderer verschont zu bleiben.
KNA: Wie wäre es bei einem Lehrer, der sich mit einem Symbol von Hammer und Sichel als Kommunist zu erkennen gibt?
Essen: Ich glaube nicht, dass man so einen Fall als Vergleich heranziehen kann. Denn im Streit um das Kopftuch geht es um das vom Grundgesetz geschützte Recht auf Religionsfreiheit; Lehrkräfte, die aus Gründen ihres Glaubens religionsbezogene Kleidung tragen, genießen den Schutz des Staates, weil sie Grundrechtsträgerinnen sind.
KNA: Inwiefern sollte das auch für den Bereich der Justiz gelten, etwa für Kopftuch tragende Staatsanwältinnen oder Richterinnen?
Essen: Grundsätzlich gilt das auch dort. Die Rechtsprechung ist jedoch ein noch sensiblerer Bereich als die Schule, weil ein Gerichtsurteil stark und nachhaltig in das Leben eines Angeklagten eingreift. Darum scheint mir ein Verbot von religiösen Symbolen bei der Ausübung hoheitsrechtlicher Tätigkeiten in diesem Bereich nachvollziehbar.
Das Interview führte Gregor Krumpholz.