Der Streit ums Kreuz in öffentlichen Gebäuden

Kruzifix-Beschluss

Es hat für heiße Debatten in Deutschland gesorgt: das so genannte "Kruzifix-Urteil", das sich mit der Frage beschäftigte, ob in deutschen Klassenzimmern Kreuze hängen dürfen. Am 16. Mai 1995 entschied das Bundesverfassungsgericht.

Das Kreuz in der Schule  / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Das Kreuz in der Schule / © Elisabeth Schomaker ( KNA )

Ein Aufschrei ging durch die Republik, als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beschloss: "Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 Grundgesetz". Auch die entsprechende Norm aus der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern sei nicht mit der Religionsfreiheit vereinbar und somit nichtig, befanden die Karlsruher Richter.

Streit beginnt im Februar 1991

Nach § 13 Abs. 1 Satz 3 der Bayerischen Volksschulordnung sollte in jedem Klassenzimmer einer öffentlichen Volksschule ein Kruzifix oder ein Kreuz hängen. Dagegen hatten Eltern aus Reuting in der bayerischen Oberpfalz geklagt: Die Erziehung in staatlichen Schulen solle weltanschaulich neutral sein, fanden sie.

Das Elternpaar hatte erstmals im Juli 1991 beim Verwaltungsgericht in Regensburg eine Klage auf Entfernung der Kruzifixe erhoben und war damit gescheitert. Es folgte ein langer Weg durch die Gerichtsinstanzen bis nach Karlsruhe. Dort entschieden die Richter am 16. Mai 1995: Die bayerische Vorschrift ist verfassungswidrig. 

Proteste gegen Urteil von 1995 

Bischöfe und Politiker in Bayern reagierten empört. Lichterketten, Schweigemärsche und Demonstrationen wurden abgehalten. Der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) sagte: "Kreuze gehören zu Bayern wie die Berge. Wer christliche Symbole aus der Öffentlichkeit verbannen will, trifft unsere Kultur in ihrem Lebensnerv. Wer das Kreuz abnimmt, schafft nicht Neutralität, sondern Leere."

Von Rom meldete sich Kardinal Joseph Ratzinger – der spätere Papst Benedikt XVI. – zu Wort: "Ich war natürlich empört, weil die Begründungen meiner Meinung nach sehr fragwürdig waren und weil ich davon überzeugt war und bin, dass bei uns doch noch so viel christliche Gemeinsamkeit besteht, dass dieses Zeichen in unseren Schulen wirklich einen Sinn hat. Empört auch in dem Sinn, dass ich glaube, dass da der Konsens der Mehrheit geachtet werden muss."

Beinahe folgenloses Urteil

Für Bayern ist der Beschluss, der im Volksmund als "Kruzifix-Urteil" bekannt ist, am Ende fast folgenlos geblieben. Das Landesgesetz wurde zwar umgeschrieben, an der Praxis hat sich aber wenig geändert. Die entsprechende Regelung im aktuellen Bayrischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz besagt: "Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht.“ Aber: "Wird der Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten widersprochen, versucht die Schulleiterin bzw. der Schulleiter eine gütliche Einigung. Gelingt eine Einigung nicht, hat er nach Unterrichtung des Schulamts für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit, soweit möglich, zu berücksichtigen."

Auf diese Gesetzesänderung folgten Popularklagen, die aber weitestgehend vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof zurückgewiesen wurden. Das Bundesverfassungsgericht hat entsprechende Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Lediglich das Bundesverwaltungsgericht hat sich in einer Entscheidung im Jahr 1999 zu der streitigen Frage geäußert und das geltende bayrische Recht für verfassungsgemäß befunden.

Kruzifix-Streit wird europäisch

Doch 2009 kocht der Streit wieder hoch: ausgerechnet im katholischen Italien. Eine Mutter klagt dort gegen die Kruzifixe in den Klassenzimmern ihrer beiden Söhne. Wieder geht es durch alle Instanzen, bis ihr 2009 schließlich die Kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) Recht gibt: Die Kreuze müssen weg.

Zahlreiche Proteste und Petitionen später revidiert Straßburg. Die Große Kammer des EGMR entscheidet am 18. März 2011 in letzter Instanz: "Die Entscheidung, Kruzifixe in Klassenzimmern anzubringen, fällt […] in den Beurteilungsspielraum des Staates, zumal es in der Frage der Präsenz religiöser Symbole in staatlichen Schulen unter den Mitgliedstaaten des Europarats keine Übereinstimmung gibt." Weiter heißt es: "Christliche Kreuze, die in Klassenzimmern öffentlicher Schulen angebracht sind, verletzen keine Grundrechte - weder Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls (Recht auf Bildung), noch Art. 9 der EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit)."

Kreuzerlass in Bayern

Immer wieder taucht in Europa der Streit um die Kreuze auf; in Österreich, in der Schweiz und selbst im katholischen Spanien. Zwar bleiben die meisten Kreuze am Ende hängen, doch sie sorgen in Europa bis heute für eine religionspolitische Auseinandersetzung. Der Grund: Es geht um nichts weniger als um die Frage von Trennung von Kirche und Staat. Es geht darum, ob Religion ausschließlich Privatsache ist. Für Kardinal Walter Kasper gilt zu bedenken: "Was bleibt über, wenn wir alle religiösen Symbole wegtun? In allen europäischen Städten stehen Kathedralen, ein handgreifliches Zeichen, was unsere Kultur ausmacht, sollen wir die auch abreißen?"

2018 sorgte ein die Anordnung, im Eingangsbereich jeder bayerischen Landesbehörde ein Kreuz aufzuhängen, für Aufsehen und eine neue Kreuzdebatte. Ein Jahr nach dem Erlass verteidigt Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Entscheidung. Der "Kreuzerlass" sei "ein wichtiges Signal gewesen", zu dem er "selbstverständlich" noch stehe, sagte Söder der Zeitung "Augsburger Allgemeine". Zu der von manchen geäußerten Kritik, die Präsentation der Maßnahme vor der Landtagswahl 2018 sei inszeniert gewesen, sagte er: "Über die Art und Weise kann man sicher diskutieren." Laut der Zeitung sind in bayerischen Landesbehörden "Hunderte neuer Kreuze" aufgehängt worden, seit der Erlass im Juni 2018 in Kraft trat. Wie viele es genau sind, kann Söder nicht sagen: "Das weiß ich nicht zu hundert Prozent. Dafür ist das Innenministerium zuständig, aber wir haben das immer sehr liberal gehandhabt." Eine Überprüfung finde nicht statt. Insgesamt gilt die Regelung für 1.100 staatliche Stellen im Freistaat wie Landratsämter, Finanzämter und Gerichte. Laut "Augsburger Allgemeine" gab es zwischenzeitlich einen Lieferengpass an Kreuzen.

2018 hatte unter anderen der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx (München), Söder vorgeworfen, "Spaltung, Unruhe, Gegeneinander" ausgelöst zu haben: "Wenn das Kreuz nur als kulturelles Symbol gesehen wird, hat man es nicht verstanden." Viele bayerische Theologieprofessoren und auch evangelikale Theologen hatten Söders Erlass unterstützt.