Viele Katholiken blicken an diesem Tag auf den Zionsberg. Hier begraben die Christen Jerusalems ihre Toten. Jedes Jahr zu Allerseelen ziehen die Gläubigen zusammen mit den Franziskanern von Friedhof zu Friedhof, segnen die Gräber und ehren die Verstorbenen mit Blumen und süßem Gebäck. "Der Tod und die Hoffnung auf Auferstehung eint alle - auch Muslime und Juden", sagt der Pfarrer der katholischen Pfarrei Jerusalems, Franziskanerpater Nerwan al-Bannah. Für ihn atmet die irdische, oft konfliktträchtige Stadt dann ein bisschen vom Jerusalem des Himmels als dem letzten Ziel der Pilger.
Innen entlang der Stadtmauern führt die Prozession Ordensleute und Gläubige, vom Franziskanerkonvent mit der Pfarreikirche Sankt Salvator zum Zionstor und dort außen entlang, vorbei am armenischen Friedhof zur ersten Station. Verstorbene des Franziskanerordens liegen hier in Wandnischen begraben. Schlichte Messingschilder, darauf der Name und die Lebensdaten, unterstreichen das Armutsgelübde der Verstorbenen. Bei den älteren Gräbern fehlt selbst dies. Eine gerahmte alphabetische Liste gibt Aufschluss, wer wo begraben ist.
"Erbaue wieder die Mauern Jerusalems!"
Ein bisschen Weihrauch, etwas Weihwasser, ein Gebet. Die Gemeinde zieht singend und betend weiter. Rosenkranz und arabische Lieder werden abwechselnd mit Psalm 50 gesungen: "Nach deinem Wohlgefallen tu Gutes an Zion, erbaue wieder die Mauern Jerusalems!" Der Winterhimmel ist den Betenden freundlich gesinnt. Die Sonne zeichnet die Schatten der Prozessierenden auf die Straße.
Der Friedhof für Ausländer am Südosthang ist die nächste Station. Ein paar Gedenktafeln erinnern an Tote aus der britischen Mandatszeit, "begraben andernorts auf diesem Friedhof". Ihr tadelloses Weiß steht im Kontrast zum in die Jahre gekommenen, fast verwunschen-überwachsenen Friedhof, an dessen rostigem Eingangstor die Farbe abblättert. Weihrauch. Gebet. Drei Franziskaner segnen die schlichten Gräber mit Weihwasser, bevor die Prozession zur letzten Station weiterzieht.
"Unser Gedenken gilt allen Toten"
Terrassenförmig breitet sich der katholische Gemeindefriedhof über den Hang nach Südwesten aus, dessen prominentestes Grab dem Judenretter Oskar Schindler gehört. An diesem Tag jedoch stehen die anderen Gräber im Mittelpunkt. Viele sind blumengeschmückt, um manche haben sich Angehörige versammelt. Fast schon enthusiastisch dekorieren polnische Ordensschwestern die Gräber polnischer Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg in den rot-weißen Nationalfarben. Der Glaube daran, dass der Tod nicht das Ende ist und die Hoffnung auf die Auferstehung und ein Wiedersehen im himmlischen Jerusalem, fasst Pfarrer Nerwan das Wesentliche des Fests in seiner Predigt zusammen.
"Das Fest heute ist ein christliches, aber unser Gedenken gilt allen Toten", betont der Iraker die universelle Tradition. Nach dem abschließenden Gebet verliert sich die Menge auf dem Gelände. Die Wintersonne, scheint es, unterstreicht die gelöste Stimmung noch zusätzlich. Tränen sieht man an diesem Tag kaum. Drei Tage rund um Allerseelen sei der Friedhof in diese festliche Stimmung versetzt, so der Pfarrer, "ein Symbol für die Auferstehung".
Familien kommen, reinigen die Gräber, schmücken sie mit Blumen, Weihrauch und süßen Sesamkringeln. "Süßes steht für die Freude, es gehört zu diesem Fest wie zu allen frohen Festen"; sagt Nerwan al-Bannah. "Wer von den Süßigkeiten isst, betet ein Ave Maria und sagt Dank." Die Süßigkeiten, sagt Jack, "sind ein Segen, wir teilen sie mit den Menschen um uns herum". Jedes Jahr kommt der syrisch-katholische Christ aus Beit Sahour mit seinen Kindern an Allerseelen nach Jerusalem, "damit sie die Tradition kennen, wenn wir einmal sterben".