KNA: Herr Professor Graf, manche Hollywood-Streifen stellen die ersten Christen vor allem als Angehörige der Unterschicht dar, die sich gegen Unterdrückung auflehnt. Lässt sich so die schnelle Ausbreitung des Christentums erklären?
Graf: Das ist ein Erklärungsansatz, der aus dem 19. Jahrhundert stammt und vor allem bei der Arbeiterbewegung attraktiv war. Aber das stimmt so nicht. Das Christentum war zugleich auch ein Oberschichten-Phänomen. Es hat viele Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen angesprochen und ihnen einen Sinn gegeben. Diese Vielseitigkeit und Plastizität ist sicher eines der Erfolgsgeheimnisse.
KNA: War es die Überzeugungskraft der christlichen Märtyrer, die der neuen Religionen einen so großen Zulauf gebracht hat?
Graf: Diese Meinung war in den vergangenen Jahrhunderten in der katholischen Kirche weit verbreitet. Der britische Althistoriker Edward Gibbon hat diese Erklärung aber schon im 19. Jahrhundert mit der süffisanten These zurückgewiesen, der Einfluss der Märtyrer werde weit überschätzt. Die Christen hätten weit mehr Energie darauf verwandt, sich gegenseitig umzubringen.
KNA: Welche Erklärungsansätze gibt es noch?
Graf: Für den in den USA lehrenden katholischen Neutestamentler Hans-Josef Klauck sind es vor allem die engen sozialen Netze der ersten Christen und ihre Wohltätigkeit, die es in der heidnischen Antike nicht gegeben hat. Erst mit den Christen sind Mitleid, Barmherzigkeit und Nächstenliebe salonfähig geworden. Für den Münchener Theologen Roland Kany hat die Erfolgsgeschichte des Christentums etwas mit der Überwindung von sozialen Schranken zu tun. Grenzen zwischen Herr und Sklave, Mann und Frau, Jude und Grieche wurden übersprungen. Glenn Most verweist auf die literarische Qualität der Texte und die hohen intellektuellen Ansprüche, die das Christentum attraktiv gemacht haben:
beispielsweise so paradoxe Gedanken wie "im Tod ist das Leben" oder "Gott und Mensch zugleich". Most meint auch, es sei ein Glück, dass Jesus selbst nicht literarisch tätig war, sondern die Beurteilung seines Wirkens seinen Zeitgenossen überlassen hat.
KNA: Zu welcher Erklärung neigen Sie?
Graf: Natürlich sind das alles Theorien; wir wissen nicht wirklich, was sich warum abgespielt hat. Ich denke, dass ein ganzes Bündel von Erklärungen greift: dass soziale Schranken überwunden wurden, die Mildtätigkeit, das Mitleid. Darüber hinaus bot das Christentum gegenüber den Vielgötter-Religionen im Römischen Reich einen
Mehrwert: Man konnte sich auf einen Gott konzentrieren und zugleich auch sozial handeln. Die Christen sorgten für Alte, Kranke, kümmerten sich um würdige Bestattungen. Das alles ist für uns heute selbstverständlich, war aber in der Antike revolutionär.
KNA: Gab es vergleichbar erfolgreiche Bewegungen in der Geschichte?
Graf: Ich würde sagen, nein. Vielleicht ist die explosionsartige Ausbreitung der Pfingstkirchen in Lateinamerika von einer ähnlichen Dynamik, wobei wir in Europa das nicht so recht mitbekommen.
KNA: Und der Islam?
Graf: Der Islam hat sich in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens natürlich auch sehr schnell durchgesetzt, allerdings auf kriegerische Weise. Das ist wohl mit der Ausbreitung des Christentums in seiner ersten Phase nicht vergleichbar.
KNA: In Ihrem Buch analysieren Historiker für alte Geschichte, Kirchenhistoriker und auf das Neue Testament spezialisierte Forscher die Anfänge des Christentums. Gibt es da Unterschiede zwischen den beiden Disziplinen?
Graf: Sogar recht große. Denn die Althistoriker analysieren viel vorsichtiger und haben eine größere Distanz zu den Quellen. Während sich Exegeten vor allem mit den von der Menge her überschaubaren Texten des Neuen Testaments und seiner unmittelbaren Umwelt auseinandersetzen und jedes Wort und jeden Satz umdrehen, haben die Althistoriker eine oft viel weitere Perspektive. Nach ihrer Einschätzung fehlen für viele Thesen der literaturwissenschaftlich arbeitenden Kollegen einfach die tragfähigen Quellen.
Der Theologe Graf über die Anfänge des Christentums
"Das war in der Antike revolutionär"
Pfingsten gilt als Geburtsfest der Kirche. Wie aber hat sich das Christentum von einer kleinen jüdischen Sekte bis zur Staatsreligion im Römischen Reich entwickelt? Dieser Frage ist der Münchner evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf in einem in diesem Frühjahr unter dem Titel "Die Anfänge des Christentums" herausgegebenen Buch nachgegangen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur erläutert der Professor für Systematische Theologie und Ethik, welche wissenschaftlichen Erklärungen es für die explosionsartige Ausbreitung des Christentums gibt.
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