Wie wenig ein freiwilliger Amtsverzicht für Papst Johannes Paul II. (1978-2005) in Betracht kam, belegt ein überlieferter Ausspruch von 1994. Nach einer seiner nicht seltenen Operationen soll der robuste Pole seinen Chirurgen beschworen haben: "Herr Professor, Sie und ich haben keine Wahl: Sie müssen mich heilen, und ich muss schnell gesund werden - denn es gibt keinen Platz für einen emeritierten Papst."
Szenenwechsel, gut 18 Jahre später: ein Paukenschlag auf Latein - einer inzwischen so unbekannten Sprache, dass zunächst nur wenige Kardinäle und eine italienische Journalistin begriffen, was da gerade mit schwacher Stimme Welthistorisches verkündet wurde: "... dass ich mein Unvermögen erkennen muss, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen".
Kein Karnevalsscherz
In Deutschland wird genau zu dieser Stunde Rosenmontag gefeiert. Fasching, Karneval, Fastnacht, irgendwas nach 11.11 Uhr; die großen Straßenumzüge in Köln, Mainz, Düsseldorf sind unterwegs. "Na klar! - der Papst ist zurückgetreten...", Tusch, Gelächter - die nahe liegende Reaktion. In den Nachrichtenredaktionen aber herrscht schon sehr bald Gewissheit: Das ist weder Scherz noch Übung. Es ist "Tag X"!
Schon rollt die Maschinerie von Texten und redaktionellen Hinweisen, wie sie für den Fall des Papsttodes vorbereitet und immer neu aktuell gehalten wird. Weißes Haus, UN-Hauptquartier, Bundeskanzleramt, der Dalai Lama, Moskau und Jerusalem melden sich. Nur - der Papst ist gar nicht tot... Im Gegenteil: Der langjährige US-Vatikanist John Allen, der Benedikt XVI. tags darauf begegnete, berichtet, er sei ihm fast befreit erschienen - "wie jemand, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde".
Theologischer Sprengsatz
Es war ein theologischer Sprengsatz, den der so sanft und zerbrechlich wirkende Benedikt XVI. an jenem 11. Februar 2013 zündete: der erste freiwillige Amtsverzicht seit 718 Jahren, landläufig "Rücktritt des Papstes" genannt. "Respekt!", sagten viele angesichts dieses gar nicht so kleinen Schrittes eines Menschen - dem intensivste innere Erörterungen vorausgegangen sein dürften. Vom Kreuz steige man nicht herab, moserte dagegen der langjährige Papstsekretär Kardinal Stanislaw Dziwisz. Ja - das hier war ein Einschnitt weit über den Tag hinaus.
Auch das ist, beabsichtigt oder nicht, ein Kapitel des geistlichen Testaments von Joseph Ratzinger geworden: Darüber, ob und wann ein Papst zu gehen habe, wenn immer ihm körperlich, politisch oder geistlich der Sprit auszugehen droht, könnte künftig via Smartphone beim Butterbrot in Bus und Bahn gevotet werden, auf Websites oder Blogs ohne jedes Mandat. Like! - Unlike! Der "theologische Zauberer" wurde so am Ende auch zum "Entzauberer des Papstamtes", wie ein hellsichtiger Kölner analysierte.
Bedeutet das aber nun eine Schwächung oder eine Stärkung des Amtes? Eine Öffnung, eine Erdung und neue "Zeitgemäßheit" - oder einen Präzedenzfall, der die Päpste künftig erpressbar macht? Darüber ist seitdem viel spekuliert worden. Doch der Praxistest steht eigentlich immer noch aus. Denn mit Franziskus regiert ein vitaler, tatendurstiger und mehrheitlich immer noch sehr beliebter Papst. Schon das ist bemerkenswert in unserer oberflächlichen, immer schnelleren Voting-Gesellschaft.
Die wahre Stunde des "Daumen hoch" oder "Daumen runter" könnte dann kommen, wenn Franziskus oder ein Nachfolger mit seinen Projekten scheitert, wenn er "nicht liefert" - oder wenn ihm selbst qua hohen Alters die Fäden aus den Händen zu gleiten drohen. Dann kann jener mediale Sog entstehen, sich "ein Beispiel an Benedikt XVI. nehmen" und "den Weg frei" machen zu sollen. Das wäre dann tatsächlich eine Schädigung des Amtes - denn die Freiwilligkeit, die Benedikt XVI. für sich in Anspruch nehmen konnte, stünde natürlich unter solch öffentlich erzeugtem Druck infrage.
Reizvolle Konstellation
Benedikt XVI. selbst, so viel steht fest, fiel 2013 allemal die unmenschliche Last eines "Stellvertreters Christi auf Erden" von den Schultern. Der Zerbrechliche ist auch fünf Jahre danach noch da, inzwischen fast 91, geistig rege, wenn auch gesundheitlich eingeschränkt. Benedikt XVI./Joseph Ratzinger blieb zwar als Spaziergänger im Vatikan nicht so "unsichtbar für die Welt", wie er es einst gelobte; gab Interviews und Kommentare, schrieb Gruß- und Vorworte, empfing Eifrige, Ambitionierte und bayerische Fahnenabordnungen. Kirchenpolitische Eklats aber, wie ihn Historiker durch ein Doppelpapsttum gewärtigten, blieben aus.
Für den Beobachter ist es am Ende eine reizvolle Konstellation: der zierliche Emeritus am Lehrstuhl Petri, theologischer Grandseigneur und Großvater der Kirche, der im Gebet noch einiges zu erreichen versucht, was er im Amt nicht mehr schaffte. Und Franziskus, der vitale Hirte, der sein ganzes Priesterleben außerhalb des Porzellanladens Vatikan verbrachte - und in seinen letzten Lebensjahren noch mal alles daran setzt, kräftig Stallgeruch in die Auslagen zu bringen.
Man besucht sich, ist sich gewogen, äußert sich freundlich übereinander - während die veröffentlichte Meinung viel daran setzt, zwischen zwei so unterschiedlichen Hirten zu polarisieren. Alles in allem scheint das permanente Zwei-Päpste-Jahr der Kirche bislang zumindest nicht über Gebühr zu schaden. Wohl auch, weil die beiden symbolträchtige oder gar ulkige Szenen konsequent umgangen haben - etwa als bei der Fußball-WM 2014 in welthistorisch einmaliger Konstellation ein deutscher und ein argentinischer Papst gemeinsam im Fernsehen das Finale Deutschland gegen Argentinien hätten gucken können - und ein Götze schoss dann auch noch das entscheidende Tor.