DOMRADIO.DE: Vor mehr als 100 Jahren, am 20. September 1918, traten bei Pater Pio zum ersten Mal die Wundmale an Händen und Füßen auf. Mit den Stigmata lebte der Pater bis zu seinem Tod im Jahr 1968. Er wurde zum Volksheiligen, besonders in Süditalien begegnet man auf Schritt und Tritt seinen Statuen und Bildern. Was fasziniert die Italiener so an Pio?
Ulrich Nersinger (Vatikan-Experte): Es ist eigentlich etwas tragisch, wenn gerade Stigmata einen Heiligen ausmachen. Das ist eigentlich etwas, was die Kirche gar nicht möchte. Für die Kirche sind Heilige und Selige eher mit dem Erleben und dem Leben der Tugenden verbunden oder einem Martyrium. Solche Phänomene wie Stigmata betrachtet man eigentlich mit großem Misstrauen.
DOMRADIO.DE: Pater Pio wurde 1887 in Kampanien geboren. Er lebte und wirkte und starb 1968 in Apulien. Bis heute wird er besonders südlich von Rom besonders verehrt – hauptsächlich, weil er selber aus dem Süden kommt. Oder gibt es doch noch andere Gründe?
Nersinger: Natürlich weil er ein Volksheiliger ist. Das einfache Volk hat in ihm jemanden gesehen, der aus ihren Reihen kam und der dann – was der italienischen und der ganzen südländischen Mentalität entspricht – natürlich von gewissen Phänomenen begleitet war: die Stigmata, die Wunder, die Heilungen und natürlich auch die Bilokation, also dass er an zwei Orten gleichzeitig sein konnte.
Das ist etwas, was die Menschen auch heutzutage sehr fasziniert. Aber ich glaube, es gab auch etwas, worauf sich dann später der Selig- und Heiligsprechungsprozess stützte: er war ein großartiger Seelenführer und Beichtvater.
DOMRADIO.DE: Deshalb wurde er im Sommer 2002 auch heiliggesprochen. Das war eine Heiligsprechung, die durchaus polarisierte. Was für ein Zeichen wollte Papst Johannes Paul II. damals setzen?
Nersinger: Er wollte auch zeigen, dass man bei den Heiligen genau hinschauen muss, dass man sich nicht nur die Phänomene, sondern auch das vorbildliche Leben genau anschauen muss. Denn wir wissen ja, die Päpste haben sehr unterschiedliche Meinungen.
Pius XI. wollte Pio vom Priesteramt suspendieren, Pius XII. war für ihn, Johannes XXIII. hatte eine sehr, sehr negative Einstellung. Dann hatte Paul VI. wieder eine positive Haltung. Man hat sich von da an mehr auf das konzentriert, was Pio vor allem im Beichtstuhl geleistet hat.
Insbesondere Johannes Paul II., dem wir ja sehr viele Selige und Heilige zu verdanken haben, hat gesagt, wir schauen mal auf die Tugenden. Für ihn war er ein vorbildlicher Mensch. Ich glaube, er hat ihn sogar persönlich kennengelernt.
DOMRADIO.DE: Er ist im Süden sehr anerkannt. Was sagen die Norditaliener?
Nersinger: Dort gibt es schon auch eine Verehrung, aber natürlich mit etwas mehr Distanz. Je mehr wir uns in den Süden begeben, umso stärker sind solche Sachen von Emotionen begleitet. Obwohl es das dort oben im Norden durchaus auch gibt.
Aber Pater Pio ist volkstümlich. Er hat hier dem Heiligen Antonius tatsächlich den Rang abgelaufen, was eigentlich niemand jemals für möglich gehalten hatte. Er ist sehr verwurzelt im Volk. Es gehen auch auch Prozessionen durch die Stadt. Wenn wir dann sehen, wie seine Kutte auf einem kleinen Lastwagen mitgeführt wird, bekommt man eine Vorstellung davon, wie stark so ein Volksglaube sein kann.
Das Interview führte Heike Sicconi.