Ziemlich genau 8.350 "Seelen" zählt die Bonner Pfarrei Sankt Petrus, um die sich Pfarrer Raimund Blanke und sein Team kümmern. Das Gemeindeleben ist vielfältig, die Angebote reichen von Flüchtlingshilfe und Straßenexerzitien bis zu Literaturabenden, Männer-Wanderwochenden und Gesprächskreisen für junge Leute. Mit dem "Petrus-Weg" verfolgt die Pfarrei zudem einen Weg der Beteiligung möglichst vieler Gemeindemitglieder. An mangelndem Engagement scheint es nicht zu liegen, dass die Liste mit den Austritten deutlich schneller wächst als die mit den Eintritten - und das seit Jahren schon. 88 Menschen haben hier allein 2015 der Kirche den Rücken gekehrt - gegenüber vier Aufnahmen.
Mutmachende Zeichen
"Ich habe das Gefühl, dass wir, was Kirche betrifft, in ganz Deutschland nicht mehr vor einem Wandel, sondern eher vor einem Abbruch stehen, auch wenn das sehr negativ klingt", kommentiert Pfarrer Blanke die Zahlen. Zugleich betont er, trotz allem Hoffnung zu haben. "Ich sehe in unsere Gemeinde viele Zeichen, die mir Mut machen."
Ein Austritt wird vor dem Amtsgericht bekundet, das Einwohnermeldeamt zeigt ihn dann bei der Gemeinde an. Jeder, der diesen Schritt vollzogen hat, erhält einen Brief von Pfarrer Blanke, in dem ein Gespräch angeboten und nach den Gründen gefragt wird. "Aber in den fast zehn Jahren, in denen ich hier bin, hat es solch einen Austausch nur ein paarmal gegeben", bedauert der Seelsorger. So kann Blanke nur vermuten, "dass sich viele wohl nicht angemessen wahrgenommen fühlen". Die Frage bleibt, wie sich das künftig ändern soll, angesichts ständig größer werdender Gemeinden.
Finanzielle Gründe
Eine aus Blankes Pfarrei, die im vergangenen Jahr austrat, ist Annette Beckmann (Name geändert). "In erster Linie aus finanziellen Gründen", wie sie freimütig einräumt. Beckmann war in einem großen Unternehmen tätig, das in den vergangenen Jahren Stellen kürzte. Irgendwann kam auch sie selbst an die Reihe - immerhin gab es eine hohe Abfindung. Genau darin lag für Beckmann der Knackpunkt. Einen fünfstelligen Betrag hätte sie an Kirchensteuern abführen müssen.
"Das Geld wollte ich lieber meiner Familie zukommen lassen oder Hilfsorganisationen wie den Ärzten ohne Grenzen." Das Problem bei der Kirchensteuer sei doch, so findet sie zumindest, dass man "keine Ahnung" habe, wohin denn nun das ganze Geld fließe.
Gläubig ohne Kirche
Trotzdem: Richtig wohl fühlte sie sich nicht, als es daran ging, das Formular für den Austritt auszufüllen. "Ich bleibe gläubig", betont die Mittfünfzigerin, die nach eigenem Bekunden nervös wird, wenn zu Ostern kein Palmzweig und keine gesegnete Kerze im Haus sind. Warum sie dennoch der Kirche den Rücken kehrte?
Beckmann hält kurz inne. Und erzählt dann davon, wie sie Kirche in den vergangenen Jahren erlebt hat. Im katholischen Krankenhaus, in dem ihre Mutter im Sterben lag. Und wo es nur ein einziges Mal zu einem Kontakt mit einem Seelsorger kam. Oder beim Pfarrer ihres Geburtsortes, der den Wunsch der Familie nach einer Totenmesse am Sonntag unter keinen Umständen erfüllen wollte. Wenn man Beckmann zuhört, scheint es manchmal so, als ob die heute allgegenwärtige Servicegesellschaft und die früher allgegenwärtige Kirche nicht mehr miteinander kompatibel sind.
Hoffnungsträger Franziskus
Dabei bleiben Typen mit Ecken und Kanten offenbar gefragt. Zum Beispiel Papst Franziskus. "Das ist 'ne coole Socke", sagt Beckmann und klingt plötzlich durchaus begeistert von Kirche. "Der macht den Leuten klar, dass wir im Jahr 2016 leben und nicht mehr zu Zeiten der Inquisition." Aber es bleibt dabei. An ihrem Austritt gibt es - vorerst - nichts zu rütteln.
Vorsintflutliche Ansichten
Auch Joachim Nadstawek ist schon einmal ausgetreten. 2011 war das, lange hatte er mit sich gerungen. Auslöser war ein Auftritt des Essener Bischofs Franz-Josef Overbeck in der ARD-Talkshow von Anne Will im Jahr zuvor. Der Bischof nannte damals Homosexualität eine Sünde, sie widerspreche der menschlichen Natur. Zwar revidierte Overbeck seine Äußerungen wenig später, traf sich auch mit Vertretern von Schwulen und Lesben. Aber für Nadstawek war der Zug zu diesem Zeitpunkt schon abgefahren. "Ich fand das einfach vorsintflutlich" - aus "persönlicher Betroffenheit" heraus, wie er sagt, aber auch, weil Jesus mit seiner Botschaft doch auf alle Menschen in gleicher Weise zugegangen sei.
Nadstawek, "seit Urzeiten" in der Kirche und ihr stets verbunden, aber ohne feste Gemeinde in Bonn, machte Schluss. Als Schmerztherapeut hat der Mediziner gelernt, ehrlich mit schwer kranken Menschen umzugehen. Nun wollte er ehrlich gegen sich selber sein. Der Austritt tat weh, wie er einräumt. Aber er schien konsequent - bis zu jener Christmette in der Stiftskirche. "Mich hat beeindruckt, dass der Pfarrer dort kritisch mit den Dingen umging, die in der Kirche passieren", erinnert er sich an die Predigt von Raimund Blanke.
Kritischer Blick auf das Führungspersonal
Es blieb nicht bei dem einen Gottesdienstbesuch. Nadstawek kam häufiger, fühlte sich in der Gemeinde zuhause. Was ihn konkret anzog? Die persönliche Atmosphäre, das "Wir-Gefühl". Glaube, so fasst es der 67-Jährige zusammen, habe eben auch sehr viel mit denen zu tun, die ihn vermitteln. Ein Bischof hat ihn mit seinen Äußerungen zum Austritt bewogen, ein Pfarrer zum Wiedereintritt im März 2015. Einen kritischen Blick hat sich Nadstawek gleichwohl bewahrt - auch auf das Führungspersonal: Das müsse die Kirche zukunftsfester machen. Und Fragen wie die nach dem Priesteramt für Frauen und einem Ende des Pflichtzölibats für Priester ergebnisoffen angehen, findet er.
Dabei bleibt der Mediziner ganz Realist. "Frauen am Altar werde ich wohl nicht mehr erleben." Für sein persönliches Engagement in der Kirche spiele das aber nicht die Hauptrolle. Das Gleiche gelte für den Fall, wenn Raimund Blanke eines Tages die Leitung der Pfarrei in andere Hände geben müsse. Die Gemeinde sei in all den Jahren zusammengewachsen. "Das macht so schnell niemand kaputt", zeigt er sich überzeugt. Für ihn habe sich in Bonn ein Kreis geschlossen: "Ich habe das wiedergefunden, was ich zwischenzeitlich verloren hatte."