Deutschland gedenkt der Opfer rechtsextremer Gewalt

"Jeder einzelne von uns ist gefordert"

Mit bundesweiten Gedenkminuten ist in vielen deutschen Städten der Opfer der Neonazi-Mordserie gedacht worden. Angehörige der Ermordeten riefen bei der zentralen Gedenkfeier für die Opfer rechter Gewalt zum gemeinsamen Eintreten gegen Fremdenfeindlichkeit auf. "Die Politik, die Justiz, jeder einzelne von uns ist gefordert", sagte Semiya Simsek, deren Vater im Jahr 2000 in Nürnberg von der Zwickauer Terrorzelle getötet worden war.

 (DR)

Das Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt ist halbdunkel gehalten, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag bei der Gedenkfeier für die Opfer des Rechtsterrors ans Podium tritt. Im maßvollen Licht der großen Kronleuchter klingen ihre Worte umso deutlicher: Es sei "besonders beklemmend", dass die Angehörigen teils jahrelang unter falschen Verdächtigungen der Sicherheitsbehörden leiden mussten, sagt Merkel: "Dafür bitte ich um Verzeihung."



Die Jahre vor der Aufklärung müssten ein "nicht enden wollender Alptraum" gewesen sein, ergänzt sie vor den rund 1.200 Gästen der Veranstaltung, unter denen sich auch rund 80 Angehörige der Gewaltopfer befinden. Niemand könne die Jahre zurückbringen oder Schmerz, Zorn und Zweifel ungeschehen machen. Mit der Gedenkfeier solle aber auch gezeigt werden, dass die Angehörigen nicht länger allein mit ihrer Trauer dastehen.



Kirchen rufen zum Gebet für die Mordopfer rechtsextremer Gewalt Familien auf

Rechtsextremes Denken und Handeln seien mit dem christlichen Glauben unvereinbar, erklären der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, und der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, kurz vor der zentralen Gedenkfeier. "Wer die Würde und das Recht von Menschen missachtet, wer andere Menschen hasst, verletzt oder gar ermordet, der handelt gegen den Willen Gottes", heißt es in dem gemeinsamen Text.



Gerade Menschen mit anderer Herkunft und anderem Glauben seien auf besondere Fürsorge angewiesen, mahnen Schneider und Zollitsch. "Gemeinsam müssen wir Ausgrenzung und Hass überwinden und zu Frieden befähigen." Grenzen zwischen Völkern und Menschen würden durch die Gemeinschaft mit Jesus Christus überwunden. Es gehe darum, den christlichen Auftrag zur Nächstenliebe umzusetzen. Die Spitzenrepräsentanten der evangelischen und katholischen Kirche rufen die Gläubigen zum Gebet für die Mordopfer rechtsextremer Gewalt und deren Familien auf.



"Eine Schande für unser Land"

Merkel wiederholt während der Gedenkfeier, was sie bereits im November nach der Aufdeckung der Mordserie gesagt hatte: Diese sei "eine Schande für unser Land". Sie verspricht, es werde alles getan, was dem Rechtsstaat möglich sei, "damit sich so etwas nie wieder wiederholen kann".



Gedacht wird der zehn Opfer der im November aufgedeckten Mordserie der Zwickauer Terrorzelle. Sie soll in den Jahren 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen ermordet haben. Opfer waren Kleinunternehmer mit ausländischen Wurzeln sowie eine Polizistin. Der extremistische Hintergrund der Taten war von Verfassungsschutz und Polizei zunächst nicht erkannt worden.



Merkel warnt vor der "verheerenden Wirkung" der Gleichgültigkeit: "Wir vergessen schnell, viel zu schnell." Intoleranz und Rassismus äußerten sich aber keinesfalls nur in Gewalt. Gefährlich seien auch diejenigen, "die Vorurteile schüren und ein Klima der Verachtung erzeugen".



Verbitterung klingt bei der Hinterbliebenen Simsek durch

Semiya Simsek, deren Vater im September 2000 als erster von den Rechtsterroristen ermordet wurde, ist bei ihrer Rede ihre Verbitterung anzumerken: "Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein", sagt die 25-Jährige unter Hinweis auf die Verdächtigungen, unter denen ihre Familie stand. Sie fragt, wie sie sich noch gewiss sein könne, dass Deutschland ihr zuhause sei, wenn dort Menschen zu Mördern würden, "nur weil meine Eltern aus einem fremden Land kommen". Politik, Justiz, jeder Einzelne müssten verhindern, "dass das auch anderen Familien passiert".



Ismail Yozgat aus Kassel, dessen Sohn 2006 ermordet worden war, dankt für das Angebot der Bundesregierung, die Angehörigen finanziell zu entschädigen: "Wir möchten aber seelischen Beistand." Er fordert die umfassende Aufklärung der Taten und die Einrichtung einer Stiftung im Namen der zehn Toten. Schließlich wünscht er sich, dass die Straße in Kassel, in der sein Sohn geboren und gestorben ist, nach diesem umbenannt wird: in Halit-Straße.



Kerze der Hoffnung

Semiya Simsek und Gamze Kubasik, deren Vater ebenfalls von der Zwickauer Terrorzelle ermordet worden war, tragen zum Schluss gemeinsam eine Kerze aus dem Konzerthaus. Sie brannte neben elf weiteren Kerzen auf dem Podium, die für die zehn Opfer der Mordserie und die unbekannten Opfer rechtsextremistischer Gewalt stehen sollten: Die zwölfte solle eine "Kerze der Hoffnung" sein, sagt Kubasik. Als die beiden Frauen durch die Reihen hinausgehen, stehen die Gäste auf und applaudieren.



Um 12 Uhr wurden in ganz Deutschland der Opfer gedacht. Gewerkschaften und Arbeitgeber hatten gemeinsam dazu aufgerufen. In mehreren Städten stand der öffentliche Nahverkehr für eine Minute still, Firmen organisierten Arbeitspausen.