Diakonie fordert Entlastungen für sozial Benachteiligte

"Das Haus brennt"

Das 9-Euro-Ticket läuft Ende August aus und Sozialverbände fordern eine Fortsetzung, gerade für einkommensschwache Menschen. Das reicht in der aktuellen Krise aber längst nicht aus, sagt die Diakonie. Sie fordert Mut zu Pauschalen.

Symbolbild Armut / © Khamidulin Sergey (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Sie haben zur Einführung das 9-Euro Ticket als "netten Testballon und eine kleine Werbemaßnahme für den ÖPNV" bezeichnet. Würden Sie das heute noch mal so sagen?

Diakonie: 9-Euro-Ticket und Tankrabatt helfen nicht nachhaltig / © Tero Vesalainen (shutterstock)
Diakonie: 9-Euro-Ticket und Tankrabatt helfen nicht nachhaltig / © Tero Vesalainen ( shutterstock )

Michael David (Armutsexperte Diakonie Deutschland): Jetzt ist die Frage, was danach kommt. Für Leute, die wenig Geld haben, war es natürlich sehr gut, in einem begrenzten Zeitraum für 9 Euro fahren zu können. Aber wir wissen noch nicht, was nun kommt. Insofern besteht da ein großer Unsicherheit.

DOMRADIO.DE: Wie groß war denn die Entlastung für ärmere Menschen tatsächlich?

David: Im Hartz IV-Regelsatz haben wir bei Erwachsenen weniger als 40 Euro und bei Kindern 20 Euro für Mobilität zur Verfügung. Ganz viele Verbundtickets sind deutlich teurer. Und es gibt auch nicht in allen Verkehrsverbünden Sozialtickets. Das heißt, es war tatsächlich so, dass viele Leute, die Grundsicherungsleistungen bekommen, jetzt mobil sein konnten, die es vorher nicht waren.

Aber dahinter steht nun das große Fragezeichen. Insofern ist die Entlastung partiell, sie ist vorübergehend. Jetzt stellt sich die große Frage, was danach kommt.

DOMRADIO.DE: Es werden verschiedene Nachfolge-Modelle diskutiert. Wie wichtig ist denn bezahlbarer Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) für einkommensschwache Menschen?

David: Das ist ganz essenziell. In Berlin zum Beispiel können wir beobachten, dass ein ganz großer Teil der Strafverfahren mit dem ÖPNV zusammenhängt, weil das Leute sind, die schwarz fahren, die Verwarnungen kriegen, diese nicht zahlen können und dann in die Gefängnisse kommen. Das ist selbst beim Senat als riesiges Thema angekommen. Da gab es schon dadurch eine Entlastung, dass ein günstiges Sozialticket eingeführt wurde.

Es wäre jetzt natürlich eine Maßnahme, den Leuten zu sagen, es gehört dazu, mobil sein zu können. Wir wollen auch nicht die Leute abhängen, die wenig Geld haben. Da muss etwas getan werden. Das würde auch direkt gegen Kriminalisierung aufgrund von Armut helfen.

Michael David

"Es gehört dazu, mobil sein zu können. Wir wollen auch nicht die Leute abgehängt haben, die wenig Geld haben."

DOMRADIO.DE: Allgemein gefragt: Wie sehr sorgen Sie sich momentan um einkommensschwache Haushalte?

David: Wir sorgen uns ganz massiv. Es stellt sich jetzt die wichtige Frage: Wie ist das mit Stromsperren? Wie ist das mit Gassperren? Wie kommen die Jobcenter bei den Leuten hinterher, die nicht zahlen können? Wie stark wird den Menschen vermittelt, dass Haushalte, die normalerweise keinen Anspruch hatten, jetzt aufgrund der besonderen Situation, durch die sie in eine Bedürftigkeit geraten, einen Anspruch haben. Da wünschen wir uns eine große Informationskampagne der Bundesregierung und ein schnelles Handeln der Jobcenter und der Sozialämter.

Michael David

"Wir haben bei den Leuten, die wirklich arm sind, ein Riesenproblem, dass sie die ganze Lücke nicht mehr stopfen können."

DOMRADIO.DE: Im Moment steht ein drittes Entlastungspaket der Bundesregierung zur Debatte. Was würde in Ihren Augen wirklich nachhaltig helfen?

David: Wir haben bei den Leuten, die wirklich arm sind, ein Riesenproblem, dass sie die Lücke nicht mehr stopfen können, die sich aufgetan hat. Wir haben dazu eine Studie mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung gemacht und können belegen, dass es wichtig wäre, jetzt für sechs Monate einen Notlagenmechanismus einzuführen, wo jeden Monat erst mal 100 Euro gezahlt werden. Man kann in diesen sechs Monaten immer noch nachsteuern und im Einzelnen gucken.

Wir haben jetzt leider die Situation, dass das Haus brennt und es wird diskutiert, wie der Einsatz laufen muss, was passieren müsste. Sobald das Haus brennt, muss der Löschzug vor der Tür stehen. Das wünschen wir uns bei den Entlastungspaketen. Nicht lange diskutieren, Mut zu Pauschalen, dann nachsteuern und den Leuten direkt unter die Arme greifen.

Das Interview führte Tobias Fricke.

Diakonie Deutschland

Die Diakonie ist der soziale Dienst der evangelischen Kirchen. Sie versteht ihren Auftrag als gelebte Nächstenliebe und setzt sich für Menschen ein, die am Rande der Gesellschaft stehen, die auf Hilfe angewiesen oder benachteiligt sind. Neben dieser Hilfe versteht sie sich als Anwältin der Schwachen und benennt öffentlich die Ursachen von sozialer Not gegenüber Politik und Gesellschaft. Diese Aufgabe nimmt sie gemeinsam mit anderen Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege wahr.

Diakonie (Symbolbild) / © Tobias Arhelger (shutterstock)
Diakonie (Symbolbild) / © Tobias Arhelger ( shutterstock )
Quelle:
DR