Hinweis der Redaktion: Das Interview ist Teil der Sendung Menschen, die Sie hier nachhören können.
DOMRADIO.DE: Im Januar 2010 haben Sie rund 600 ehemaligen Schülern des Berliner Canisius-Kollegs einen offenen Brief geschrieben. Sie haben Opfer sexuellen Missbrauchs ermutigt, ihr Schweigen zu brechen und sich zu melden. Dieser Brief trat eine Lawine los und brachte einen Skandal ins Rollen, dessen Ende auch fast ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung nicht abzusehen ist. Vielfach wurden Sie in der Folge als Nestbeschmutzer kritisiert. Trotz dieser Anstrengung, trotz Ihrer eigenen Anteile an dem ganzen Thema machen Sie weiter und sagen auch weiter durchaus unbequeme Dinge. In einer Stellungnahme sagen Sie: "Wenn sich die (kirchliche, Anm. d. Red.) Hierarchie zerfleischt, kommt die Aufklärung voran". Oder Sie sagen: "Die Schwulen sollen zu Sündenböcken gemacht werden". Oder auch: "Die Erneuerung der Kirche hängt nicht an einer Lichtgestalt an der Spitze". Sie müssen doch wissen, dass das unbequem ist, was Sie da sagen und dass das Widerspruch auslösen wird. Sie machen es aber trotzdem. Warum?
Mertes: Weil ich glaube, dass es eine heilende Wirkung hat, die Dinge anzusprechen. Ich sage es nicht, weil es unbequem ist, sondern ich sage es, weil man die Augen aufmachen muss und sich dem stellen muss. Diese drei Sätze beziehen sich ja auf diesen Konflikt spätestens seitdem der amerikanische Nuntius Vigano Papst Franziskus angreift und sagt, dieser würde die Schwulenlobby decken.
Dann geschieht etwas, was auch schon auf einer anderen Ebene immer mehr geschieht: Man merkt inzwischen, dass die Hierarchen sich untereinander zerfleischen und gegeneinander kämpfen. Ich nenne auch noch ein anderes Beispiel: Als im Jahr 2010 Kardinal Schönborn öffentlich Kardinal Sodano wegen seiner Vertuschungssprache kritisierte, ist Kardinal Schönborn damals in Gegenwart von Papst Benedikt von Sodano gedemütigt worden, weil ein Kardinal einen anderen Kardinal nicht öffentlich kritisiert. Inzwischen kritisieren Kardinäle den Papst. Kardinäle kritisieren sich untereinander und werfen einander gegenseitig Vertuschung vor.
Ich glaube, dass das ganz einfach damit zusammenhängt, dass die Angst größer wird. Und wenn in solchen Situationen Typen wie Vigano anfangen mit dem Finger auf andere Kardinäle und den Papst zu zeigen, dann ist das für mich ein Zeichen. Wenn "Obervertuscher" anfangen, anderen auf ihrer hierarchischen Ebene Vertuschung vorzuwerfen, dann ist das ein Hilfeschrei. Die haben richtig Angst und deswegen müssen sie "Haltet den Dieb" brüllen, um nicht selbst entdeckt zu werden. Das ist ein Zeichen dafür, dass der Aufklärungsdruck inzwischen oben angekommen ist.
DOMRADIO.DE: Also zeigt sich, dass all diese vielen Bemühungen um Besserung doch im Zentrum ankommen?
Mertes: Ja, ganz offensichtlich. Das ist auch das, was durch die amerikanischen Berichte ankommt. Zu nennen ist auch die Katastrophe in Chile, wo der Papst selbst um Verzeihung bitten musste für die schwerwiegenden Fehler, die er gemacht hat.
Oder die Katastrophe in Irland. Da wollte man beim Weltfamilientreffen über Familie sprechen. Aber die Öffentlichkeit interessiert sich nur für zwei Themen: Missbrauch und Homosexualität. Das nimmt ihnen niemand mehr ab und das spüren sie langsam. Und je mehr sie sich dem Thema stellen müssen, umso mehr müssen sie sich natürlich auch ihrer eigenen Rolle in dem Thema stellen.
Wenn ich mir die ganze Vertuschungssprache der letzten Jahre und Jahrzehnte anschaue, vermute ich, dass die da ganz viel bei sich selbst zu vertuschen haben und dann ist es am einfachsten, über die anderen zu schimpfen.
DOMRADIO.DE: Stichwort Irland: In einer Stellungnahme zu Irland sagen Sie, die Schwulen sollen zu Sündenböcken gemacht werden. Wie meinen Sie das?
Mertes: Es gibt in der katholischen Kirche letztlich einen ganz tiefen Dissens über die Frage nach den Ursachen für Missbrauch. Die MHG-Studie spricht ja davon, dass die abschätzige Rede und Lehre über Homosexualität in der katholischen Kirche ein systemischer Kontext ist, der die Institution auch in Hinblick auf die Anfälligkeit für Akzeptanz von Missbrauchstätern besonders gefährdet.
Da gibt es schon seit vielen Jahren eine ganz einfache Schlussfolgerung. Die lautet: "Wir müssen die Schwulen aus dem Klerus rausschmeißen, dann gibt es keinen Missbrauch mehr." In der Tat - das zeigt auch die MHG-Studie - gibt es einen signifikant hohen Anteil von männlichen Opfern bei Klerikern, die Täter geworden sind. Insofern gibt es da auch einen Zusammenhang. Nur ist die Frage, wie man diesen Zusammenhang deutet. Wenn man pauschal sagt, die Schwulen seien schuld, dann ist das ist eine diskriminierende Strategie, weil sie Homosexualität und Täter-sein faktisch gleichsetzt.
Das Problem besteht doch darin, dass die Homosexualität in der katholischen Kirche so stark tabuisiert ist, dass es gerade für diejenigen selbst, die diese homosexuelle Orientierung haben, mit massivsten Schuldgefühlen belastet ist, wenn sie spüren, dass sie schwul sind. Deswegen werden sie niemals darüber sprechen und es sogar, wenn sie Kleriker sind, verheimlichen müssen, weil Homosexuelle eigentlich nicht zum Priester geweiht werden dürfen.
Das bedeutet, wir haben ein totales Tabuschweigen zum Thema Homosexualität, sobald man anfängt in der ersten Person Singular zu sprechen. Es wird zwar ganz viel im Katechismus über Homosexualität gesagt, aber ein Priester darf nicht sagen: "Ich bin schwul". Dann ist es aus. Entweder wird er nicht zum Priester geweiht oder es wird ihm nach der Priesterweihe gesagt: "Halt die Klappe und sag es niemanden, dann darfst du." Dann ist er schon wieder in einer Abhängigkeitsbeziehung.
Daraus entstehen zwei Gefahren. Erstens ist es als homosexueller Kleriker ganz schwierig, in seiner eigenen Sexualität zu reifen, weil man ja nicht drüber sprechen darf. Und zweitens entsteht ein hohes Interesse am Schweigen und das schweißt dann wiederum die Gruppe des Klerus in einer ganz besonderen Loyalität zusammen, aus der man nur um den Preis aussteigen kann, dass man sozusagen sozial vernichtet ist.
Also ein Kleriker, der schwul ist und das öffentlich sagt, muss mit einer massiven Abstrafung des Milieus rechnen. Da gibt es auch bekannte Beispiele für. Das heißt, wir werden an das Thema nur herankommen, wenn es Homosexuellen erlaubt wird in der ersten Person Singular zu sagen: "Ich bin schwul". Dann können wir anfangen, darüber zu sprechen. Vielleicht wird ja sogar - da kommt dann ein indirekter Zusammenhang mit dem Zölibat hinzu - die ehelose Lebensform gerade in der katholischen Kirche deswegen für Menschen besonders attraktiv, weil sie sich nicht mit ihrer Sexualität, beziehungsweise insbesondere mit ihrer Homosexualität, die ja noch schlechter bewertet ist als manche Auffassung von Sexualität in der katholischen Kirche, auseinandersetzen müssen.
"Ich werde Priester und dann brauche ich mich mit alldem nicht auseinanderzusetzen", sagt die MHG-Studie, und das finde ich richtig. Und die Strategie zu sagen, die Schwulen solle man rausschmeißen, verstärkt das Tabu und verschärft damit das Problem. Diese Strategie, zu fordern, die Schwulen rauszuschmeißen und die vermeintlichen sogenannten Schwulenlobbys aufzulösen, wie es Vigano vom Papst forderte, ist verführerisch einfach.
DOMRADIO.DE: In Ihrem weiteren, dritten Punkt geht es um die Erneuerung der Kirche, die ja letztlich von allen Beteiligten das Ziel ist. Da sagen Sie, dies hänge nicht an einer Lichtgestalt. Da geht es um Papst Franziskus, der für viele Menschen ein großer Hoffnungsträger ist. Sie sagen, man brauche diese Lichtgestalt nicht, um sich als Kirche zu erneuern?
Mertes: Ja. Die ganze Entwicklung der letzten Jahre hat mich nochmal neu darauf blicken lassen, wie wir das Papsttum in der katholischen Kirche verstehen. Zugespitzt formuliert meine ich, dass man vielleicht sagen kann, dass die katholische Kirche im 19. Jahrhundert zu einer Art Papstreligion geworden ist. Das ist natürlich nicht das Selbstverständnis des katholischen Christentums und ist natürlich streng häretisch. Aber faktisch schaut alles auf die Gestalt in Weiß in Rom.
Deswegen muss ja auch jede dieser Lichtgestalten heiliggesprochen werden. Es ist geradezu ein Makel, wenn in der nächsten Zeit einmal ein Papst kommen sollte, der nicht heiliggesprochen wird. Johannes Paul II. war eine Lichtgestalt, Benedikt XVI. war eine Lichtgestalt, Franziskus ist für einen anderen Typus von katholischen Christen eine Lichtgestalt. Und wenn man in diesem Lichtgestalt-System groß geworden ist, dann hofft man eben, wenn man mit den alten Lichtgestalten eher kritisch war, dass jetzt eine neue Lichtgestalt kommt, die alles richtig macht.
Jetzt zeigt sich eben bei Papst Franziskus, der ja tatsächlich in einigen Punkten zu seinen letzten beiden Vorgängern - mindestens im Stil, aber auch in den Inhalten - alternativ aufgetreten ist, dass er auch ein paar ganz massive Fehler gemacht hat und immerhin eingestanden hat. Zum Beispiel sein Versagen bei der ganzen Geschichte des Missbrauchs in Chile. Oder jetzt die Anfragen, die aus Argentinien kommen zu der Zeit, als er dort Kardinal war und wo auch eine massive Vertuschungsthematik vorliegt. Seine Rhetorik war so scharf gegen Missbrauch: Man müsse die Täter bestrafen und auch Bischöfe zur Rechenschaft ziehen. Man merkt, er hat eben gar nicht begriffen, dass er selbst Teil des Problems war. Jetzt ist er ein Teil des Problems. Jetzt stürzen sich seine Feinde in der Kirche vom Schlage Vigano und Burke auf ihn und nutzen das. Das ist die eine Seite der Medaille.
Die andere aber ist die tiefe Enttäuschung von denjenigen, die tatsächlich hofften bei Franziskus werde es anders und jetzt merkt man: Der ist genauso überfordert wie seine Vorgänger. Der packt das Problem nicht.
Die Struktur in der katholischen Kirche mit ihrer Fixierung auf die eine zentrale Lichtgestalt macht es nicht möglich, das Problem des Machtmissbrauchs in der katholischen Kirche aufzuklären. Das ist ein systemisches Problem. Und systemische Probleme werden nicht dadurch gelöst, dass Lichtgestalten oben sind. Sie werden dadurch gelöst, dass man an dem System und an den Strukturen arbeitet, weil es Lichtgestalten gar nicht gibt. Die Vorstellung, dass es eine Lichtgestalt gibt, hindert uns daran, an die Strukturen heranzugehen.
DOMRADIO.DE: Was ist Ihr Wunsch wie dieser große, schwierige, komplexe Prozess weitergehen soll?
Mertes: Viele sagen ja, dass wir in einer Zeit leben, die erstaunlich viel Ähnlichkeit mit der Zeit der Reformation hat. Ich finde, das ist ein ganz gutes Bild. Das eine ist: Vor allem die Hierarchie muss begreifen, wie tief der Glaubwürdigkeitsverlust ist. Das lässt sich nicht durch zwei, drei Sachen schnell regeln. Das ist eine ganz tiefe Institutionskrise, in der wir uns befinden. Mein Wunsch wäre, dass das zuerst einmal wirklich anerkannt wird. Und nicht durch irgendwelche Buß-Gottesdienste und neue Gedenktage überdeckt, wobei man weiß, dass dies alles überhaupt nicht reicht, sondern dass wirklich anerkannt wird, wie tief die Krise ist. Sie ist im Kern eine Institutionskrise, letztlich auch eine Bischofskrise, eine Strukturkrise.
Und als zweites müsste dann wirklich an die Strukturen gegangen werden. Da geht es wieder um das Thema "Macht". Ich bin der Meinung, der erste Schritt, über den nachgedacht werden müsste, wäre eine innerkirchliche Gewaltenteilung. Der Fisch stinkt vom Kopf her. Nicht, weil Franziskus oder Benedikt und Johannes Paul schlechte Personen wären, sondern weil die Struktur da oben nicht stimmt. Wir brauchen Strukturen, die die Personen entlasten und zugleich Probleme der Institutionen behandelbar machen. Ich stelle mir darunter so etwas wie eine unabhängige Disziplinargerichtsbarkeit für Amtsversagen auf der Ebene der Hierarchie vor. Wenn der Papst jetzt mit solchen Vorwürfen konfrontiert ist, wo werden die denn aufgeklärt? Wo gibt es eine Instanz, die glaubwürdig sagen kann: "Wir haben es untersucht"? Man muss dem Papst glauben oder nicht glauben. Damit löst man kein Problem. Das wäre so ein ganz wichtiger Punkt.
Ich glaube auch, wir werden nicht darum herumkommen anzuerkennen, dass der liebe Gott auch Menschen erschafft, die homosexuell sind.
Ich weiß, dass das eine komplexe Aussage ist, weil Homosexualität etwas ist, was sich entwickelt. Aber das wäre auch eine ganz grundlegende Veränderung, weil sie ganz viele Konsequenzen für das Verhältnis der Kirche zur Sexualität hätte.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie wünschen sich im Kern, dass der Prozess weitergeht und in seiner Tiefe anerkannt wird?
Mertes: Ja, ganz genau. Wenn er nicht weitergehen würde, würde das nur diesen Prozess nochmal um 40, 50 Jahre verlangsamen und dann würde der Knall noch größer werden.
Lesen Sie hier den zweiten Teil des Interviews zum Thema "Geistlicher Missbrauch".