Ilia hat schon bessere Tage gesehen. Sagt er. Und lächelt vielsagend, so dass man die hinteren Zahnlücken sieht. "Ich hatte auch mal Arbeit", erklärt der kleine dunkelhaarige Mann mit der dicken Brille, der schwarzen Käppi und dem großen Kreuz um den Hals und sucht dabei nach den richtigen Begriffen auf Deutsch. "Bei der Bahn und bei Amazon", zählt er auf. Nach einer Pause fügt er hinzu: "Nix Geld vom Sozialamt." Das scheint ihm in diesem Kontext wichtig zu erwähnen: Dass diese Beschäftigungen ihm dauerhaft dennoch nichts eingebracht haben. Jedenfalls kein Hartz IV und auch keine Grundsicherung im Alter, die das, was er gerade tut, überflüssig machen würde: nämlich betteln.
"Gute Arbeit", murmelt er noch einmal, während er der Vergangenheit nachhängt und seine Gedanken in die Ferne schweifen. Vermutlich will er zu verstehen geben, dass er auch mal so etwas wie ein normales Leben mit geregeltem Einkommen hatte. Und auf der anderen Seite stand. Auf der, bei der man nicht am Boden hockt, den ganzen Tag die Menschen an sich vorbeigehen sieht und dankbar ist, wenn der eine oder andere ein bisschen Kleingeld erübrigt und in den hingehaltenen Plastikbecher wirft. Manchmal, aber eher selten nickt ihm jemand kaum merklich zu, während sich Ilia für jede einzelne Münze bedankt. Oder es bleibt sogar jemand stehen und erkundigt sich, wie es ihm geht. "Alles gut", antwortet der 60-Jährige dann einsilbig und um weitere Worte verlegen. Auch weil ihn eine intensivere Unterhaltung überfordern würde, denn Deutsch hat er nie gelernt. Obwohl er, wie er fast stolz berichtet, seit elf Jahren in Köln lebt.
Domtouristen sind nicht spendierfreudiger als andere
Tag aus Tag ein sitzt er auf seiner selbst gebastelten Kiste vor dem Dom, über die er eine Aldi-Tüte gestreift hat, um sie witterungsfest zu machen. Sein Stammplatz ist links vor dem Hauptportal, wo die vielen Touristen oder Gottesdienstbesucher an ihm vorbei müssen, die die Kathedrale nach einer Stippvisite oft schlendernd wieder verlassen, den Mann zu ihren Füßen aber kaum eines Blickes würdigen. Im großen Getümmel unbeachtet zu bleiben – das ist Ilias Los. Trotzdem erhofft er sich von den Fremden die eine oder andere Gabe nach einem erbaulichen Domerlebnis. Außerdem rüttelt ein Bedürftiger vor einem Gotteshaus immer auch am eigenen schlechten Gewissen und mahnt zur Barmherzigkeit. Kirche und Almosen – das ist selbst in den Köpfen derjenigen noch miteinander verknüpft, die sonst nichts mehr mit der katholischen Glaubensinstitution zu tun haben.
In Ausnahmefällen ist es schon mal ein Fünf-Euro-Schein, den Ilia bekommt. Dann küsst er ihn wie einen Talismann, lässt ihn aber schnell in der Jackentasche seines schwarzen Anoraks verschwinden. Ein Glückstreffer gewissermaßen, der ihn kurzzeitig strahlen lässt, aber nicht den Eindruck vermitteln soll, hier lohne es sich zu sitzen, weil es wegen der vielen, vielen Passanten Geld nur so regne. Das könnte ja potenzielle Geber von weiteren guten Werken abhalten. Schließlich laufen die "Geschäfte" nicht an jedem Tag gleich. Und die Domtouristen sind nicht spendierfreudiger als andere. Bis größere Summen zusammenkommen – im Schnitt vielleicht 20, 30 Euro am Tag – muss Ilia hier schon ein paar Stunden ausharren und Geduld haben. "Bei Regen kein Geld", erklärt er, "bei Sonne zu heiß für mein Herz." Er greift sich an die Brust und ergänzt: "Zwei Stents, heiß nix gut." Früher hätte ein schöner Sommertag auch schon mal 50 Euro und mehr eingebracht, aber das sei vor Corona gewesen, umschreibt er mühsam in gebrochenem Deutsch. Und die Mittagshitze, wenn die Sonne mit voller Kraft auf den Eingang knalle, halte er nicht mehr aus.
Schicksalsschlag oft Auslöser für gescheiterten Lebensentwurf
Ilia stammt gebürtig aus Bulgarien. Was genau ihn aus der Bahn geworfen hat und warum er die Heimat verlassen und seine Hoffnungen auf ein besseres Leben in Deutschland gesetzt hat, lässt sich nur erahnen. Irgendwann habe es zuhause keine Arbeit, keine Wohnung und auch keine Familie mehr gegeben, sagt er in wenigen Stichworten, die andeutungsweise die Tragweite seiner Misere skizzieren. Oft genügt ja ein Schicksalsschlag als Auslöser, um eine ganze Kettenreaktion an persönlichen Misserfolgen in Gang zu setzen. Eben: Keine Arbeit und in der Folge auch keine Unterkunft mehr, geschweige denn ein glückliches Familienleben. "Frau krank, dann tot, alles total kaputt, ich kaputt." So hört sich der gescheiterte Lebensentwurf in der Version von Ilia an.
Plötzlich laufen dem dunkelhäutigen Mann Tränen über das Gesicht. Auch sein Sohn Peter sei gestorben, fügt er leise noch hinzu. Vor einem Jahr. Mit 38 Jahren bei einer Operation. Noch so ein Kipp-Punkt im Leben von Ilia. Die Trauer, der Schmerz und dass eigentlich "nix wirklich gut" in seinem Leben ist, stehen ihm in diesem Moment im Gesicht geschrieben. Dann zeigt er auf den Rosenkranz aus dicken Holzperlen, den er um sein Handgelenk gebunden hat, wischt sich durchs Gesicht und umfasst das silberne Kreuz. "Das mein Arzt", sagt er. "Das Gott. Das mein Schutz." Mit einer Geste deutet er an, dass es für jede großzügige Spende einen Segen von ihm gibt. Das hat er sich von den geistlichen Herren abgeschaut. Es wirkt ein bisschen unbeholfen, ist aber herzlich gemeint und seine Art, Danke zu sagen.
Seelsorger grüßen mit aufmunternden Worten
Angela ist ebenfalls schon in aller Herrgottsfrühe unterwegs. Auch sie kauert pünktlich um 6 Uhr morgens vor dem Domeingang. Denn dann ist hier ein Kommen und Gehen von Gottesdienstbesuchern, aber auch Seelsorgern, die sich als Zelebranten für die vielen Messen – manche feiern sie ja auch nur für sich allein in einer der Kapellen unter Ausschluss der Öffentlichkeit – die Klinke in die Hand geben. Die meisten haben einen wertschätzenden Gruß oder aufmunternde Worte für die Bettler auf den Lippen. Auch die Domschweizer, die vor der Türe um diese Zeit ihre erste Schicht beginnen. Schließlich kennt man sich seit Jahren, weiß umeinander, hat sich im Blick. Und solange niemand aufdringlich wird oder es in der Summe zu viele Bittsteller hier am Hauptportal werden, sind alle, die sich auf dem Grund der Kirche friedlich verhalten, keine Schwierigkeiten machen und die Leute nicht ansprechen, geduldet.
Auch Angela sichert sich regelmäßig seit sechs Jahren ihren Stammplatz vor dem Dom. Die 62-Jährige hat ein gepflegtes Äußeres, das nicht unbedingt darauf schließen lässt, dass sie eigentlich in prekären Verhältnissen lebt, kein Geld hat und von den Behörden auch keines bekommt. Wie Ilia hat sie so etwas wie Pech im Leben gehabt. Eine Freundin habe sie damals von Italien, wo sie 15 Jahre lang gelebt und sich um alte Menschen gekümmert hat, nach Deutschland gelockt, erzählt sie, wollte ihr eine Arbeit als Altenpflegerin in einem Privathaushalt verschaffen. Der Bedarf sei groß, hieß es. Doch die Versprechungen erfüllen sich für die gebürtige Rumänin, die in Empoli nahe Pisa ihre Zelte abbricht und ihr Glück in Köln versuchen will, nicht.
Die Witwe landet auf der Straße, schlägt sich als Obdachlose durch. Nach Italien zurück will sie nicht. Meistens schläft sie draußen. Als es kälter wird, ab und zu in einer Caritas-Unterkunft. Über kirchliche Mitarbeiter wird ihr in Domnähe privat ein Zimmer mit eigenem kleinen Bad angeboten. Angela strahlt, als sie davon erzählt. "Ich danke Gott, dass ich ein Dach über dem Kopf habe." Die Menschen, die das möglich gemacht hätten, seien Heilige für sie. "Noch nie vorher habe ich so eine Unterstützung erlebt", betont die Frau mit den kurz geschnittenen grauen Haaren, die zwar nicht gut Deutsch, dafür aber fließend Italienisch spricht.
Selbst nach all den Jahren falle ihr immer noch schwer, die Hand aufzuhalten und zu betteln, räumt sie ein. "Ich schäme mich fürs Betteln. Daran werde ich mich auch nie gewöhnen." Trotzdem akzeptiere sie ihre Situation. "Ich bin gesund und bete dafür, dass das so bleibt." Von dem, was sie vor dem Dom einsammle, bezahle sie Essen und ihre Krankenversicherung. "Dafür muss ich selbst aufkommen, daher bin ich aufs Betteln angewiesen und sitze sechs bis acht Stunden täglich vor dem Dom." Viel Geld könne man auf diese Weise nicht machen. Aber sie sei schon froh, wenn 20 Euro am Tag zusammenkämen. "Damit bin ich zufrieden." An einen anderen Ort umziehen oder gar in die Heimat Rumänien zurück will Angela nicht mehr. "Hier geht es mir gut. Hier kann ich mir vorstellen zu sterben."
Für den Dom und für die Menschen spenden
Angela ist zurückhaltend, drängt sich nicht auf. Das ist Teil ihres Wesens, mag aber auch mit ihrer Scham zu tun haben. Manchmal sitzt sie sogar bewusst etwas abseits und will den "Kollegen" ihren Platz nicht streitig machen. Eine Frau ihres Alters, die mit ihrer Freundin aus dem Dom kommt, wirft mehrere Geldstücke in ihren Becher. "Ich habe gerade für den Dom gespendet", erklärt die Mittsechzigerin, "aber eigentlich sind mir die Menschen doch näher. Gegenüber Not sollte niemand gleichgültig sein. Da meinen wir, wir hätten gute Sozialsysteme", argumentiert sie, "und dann sitzen hier Bettler." Klar, dieses riesige Gebäude müsse unterhalten werden. Aber Menschen dürften dafür doch nicht auf der Strecke bleiben. "Das darf nicht gegeneinander ausgespielt werden. Schließlich ist die Kirche reich genug, aber ein Einzelner fällt ganz schnell durch unser gesellschaftliches Netz", empört sie sich. "Oft völlig schuldlos. Dabei sollte Armut in einem Land wie Deutschland gar kein Thema sein."
Es gebe viele Stammbesucher am Dom, die den Bettlern regelmäßig einen kleinen Obolus zusteckten, beobachtet Domschweizerin Claudia Drolshagen, die oft vorne am Domeingang steht und immer ein paar Worte mit den Bettlern wechselt. "Die gehören zum Dom dazu, jeder an seinem Platz", findet die 58-Jährige. Wie hilflose Kinder hockten sie oft da, meist auf jeder Seite einer. "Sie tun niemandem etwas, im Gegenteil: Wenn ein alter Prälat an der Treppe Hilfe braucht, springen sie sofort auf. Auch mir als Frau haben sie schon beigestanden, wenn der Ton der Touristen – gerade in der Pandemie, als sich manch einer von den Impfpasskontrollen provoziert fühlte und deswegen Stimmung machte – rauer wurde und ich von Besuchern mitunter hart angegangen wurde." Umgekehrt gelte das aber auch. "Wenn wir sehen, dass einer der Bettler beschimpft oder tätlich angegriffen wird, schreiten wir ein. Sie verdienen dieselbe Achtung wie andere Menschen auch." Niemand habe das Recht, sie wie Hunde zu behandeln. "Die hier selbstverständlich praktizierte Willkommenskultur gilt für jeden."
Geradezu erschrocken habe ihn, wie viele Menschen in Köln auf der Straße lebten, bekennt Dompropst Guido Assmann, der vor zwei Jahren von Neuss in die Rheinmetropole umgezogen ist. Bei seinen gelegentlichen Gängen früh morgens oder spät abends durch die Innenstadt falle ihm immer auf, dass in vielen Haus- oder Ladeneingängen Menschen auf Matratzen oder in kleinen Zelten lagerten. "Mich beschäftigt, dass sie so allen Blicken ausgesetzt sind und nicht in Sicherheit. Ich frage mich, wo sie duschen oder auch mal zur Toilette gehen können."
Auch an seiner alten Wirkungsstätte, dem Quirinusmünster oder der Klosterkirche Marienberg in Neuss, hätten immer Bettler nach den Sonntagsmessen gestanden, berichtet Assmann. "Manche klingelten sogar am Pfarrhaus. Allerdings galt immer der Grundsatz, dass das Betteln nicht aggressiv und nicht in der Kirche selber geschieht so wie auch nicht im Inneren des Domes gebettelt werden darf. Solange sich jeder daran hält, ist das ganz in Ordnung." Ein freundlicher Umgang – das sei ihm immer wichtig. "Niemand sollte den Eindruck gewinnen, nicht willkommen zu sein." Inzwischen kenne er manch einen auch vom Ansehen, sagt der Propst. "Manchmal sprechen wir kurz miteinander, zumindest aber grüßen wir einander immer." Die Caritas gehöre neben der Liturgie und Verkündigung zu den Wesenvollzügen der Kirche, erklärt der Hausherr des Domes. "Daher kann und darf man dies nicht voneinander trennen! Diese Menschen zeigen den Messbesuchern, dass es Not gibt – und zwar nicht nur in anderen Ländern, sondern mitten unter uns."
Einen solchen Blick auf Mittellose, Bedürftige und Obdachlose teilt auch Weihbischof Ansgar Puff, der mit wohnungslosen Frauen und Männern immer wieder Gottesdienst feiert und sie vor ein paar Jahren auch schon mal zu einer Wallfahrt nach Rom begleitet hat. Als Bischofsvikar zuständig für die Armen und die Caritas, engagiert er sich in der Kölner Wohnungslosenseelsorge "Gubbio", der ehemaligen Franziskanerkirche an der Ulrichgasse, und betont ebenfalls: "Sie gehören dazu. Gut, dass es sie gibt!"