Der Fall Pell in der Analyse

"Die Diskussion ist nicht beendet"

Der Urteil ist so eindeutig wie überraschend: Das Oberste Gericht Australiens hat die Haftstrafe gegen Kardinal George Pell wegen Missbrauchs aufgehoben. Der katholische Journalist Anian Christoph Wimmer spricht von einer "hoch diffizilen Situation".

Kardinal George Pell / © Gregorio Borgia (dpa)
Kardinal George Pell / © Gregorio Borgia ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die sieben Richter von Australiens Oberstem Gericht haben die Haftstrafe des Kurienkardinals George Pell wegen sexuellen Missbrauchs in allen fünf Fällen aufgehoben. Die Jury hätte aufgrund der Beweislage Zweifel an der Schuld des australischen Kirchenmanns haben müssen, hieß es in der einstimmigen Gerichtsentscheidung. Anfang 2019 war Pell zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Und nun wird er noch heute aus der Haft entlassen. Wie überraschend ist der Freispruch jetzt?

Anian Christoph Wimmer (Chefredakteur der deutschen Ausgabe der Catholic News Agency): Der ist natürlich einerseits überraschend, weil Pell bereits durch zwei Instanzen – übrigens im ersten Fall auch einhellig durch ein Geschworenengericht – für schuldig befunden worden war. Dass nun aber so eindeutig die Richter vom Obersten Gericht dagegen stimmen und diese Frage für sich letztinstanzlich klären, liegt vor allem daran, dass in der ersten Berufungsinstanz das Minderheiten-Votum von einem sehr renommierten Mann kam; Richter Mark Weinberg, ein gebürtiger Schwede, ehemaliger Staatsanwalt. Der hat ein sehr langes Minderheiten-Urteil geschrieben. Dem folgten letztlich die Anwälte Pells genauso wie die obersten Richter Australiens. Sie sagen: Dieses Urteil konnte so nicht gefällt werden, denn es gibt nicht ausreichend Beweise.

DOMRADIO.DE: Pell wurde von einem Jury-Gericht zunächst schuldig gesprochen. Der Freispruch kam jetzt durch sieben Richter. Erklären Sie uns das australische System. Warum hat die Jury denn die Beweislage so anders bewertet als die Richter?

Wimmer: Das ist tatsächlich der Situation geschuldet, dass ausgerechnet im Bundesstaat Victoria so ein prominenter Fall und eine sehr polarisierende öffentliche Figur wie Kardinal Pell überhaupt noch vor ein Geschworenengericht kommen konnte. In allen anderen Staaten und Territorien Australiens ist das gar nicht mehr möglich. Und viele Beobachter gehen davon aus: Ab heute wird das auch in Victoria nicht mehr möglich sein. Denn natürlich heißt es, so eine Jury ist eher beeinflussbar durch eine Person, die seit Jahrzehnten im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht. Da ein faires Urteil zu treffen, sei fast unmöglich gewesen, schreiben nun auch die Beobachter.

DOMRADIO.DE: Das Oberste Gericht begründet seine Entscheidung damit, dass entlastende Zeugenaussagen bei der Verurteilung Pells noch nicht berücksichtigt worden seien. Sind denn damit alle Vorwürfe gegen den Kardinal vom Tisch?

Wimmer: Die Vorwürfe kamen von einer einzigen Person. Pell soll zwei Chorknaben 1996/1997 direkt nach der Heiligen Messe in der Kathedrale in Melbourne, als er dort noch Erzbischof war, missbraucht haben. Einer der Chorknaben, der vor einiger Zeit gestorben ist, hat bis zu seinem Tod abgestritten, dass das passiert sei. Augenzeugen – darunter Menschen, die dem Kardinal auch kirchenrechtlich nicht von der Seite weichen dürfen, bis er nach der Messe umgezogen ist – sagen, er war gar nicht in der Sakristei, wo er angeblich bei offener Tür mit vollem Gewand diesen Missbrauch begangen haben soll.

Das, sowie weitere Indizien sprechen alle dagegen. Das haben die Geschworenen dennoch nicht für stichhaltig genug befunden. Sie haben eben diesen einen Zeugen, der sagt: Ich bin ein Opfer, Rechnung getragen. Das ist eine hoch diffizile Situation, der übrigens auch die Bischöfe heute in ihren Reaktionen in Australien versuchen, Rechnung zu tragen. Sie sagen: Wenn etwas passiert, geht bitte sofort zur Polizei und meldet euch. Im Fall Pell aber ist das offenbar so nicht passiert.

DOMRADIO.DE: Wie reagieren denn die Menschen in Australien jetzt auf den Freispruch?

Wimmer: Der Fall ist ein Riesen-Thema seit vielen Jahren, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens ist die viktorianische Justiz nicht nur wegen dieser Geschworenenfrage zutiefst erschüttert, sondern auch, weil es bei der Polizei offenbar sehr schwierige Ermittlungshintergründe gegeben hat. Da geht es um Mafiabosse, die verwickelt waren in eine Ermittlung der Polizei in Victoria. Da geht es um anti-katholische Ressentiments. Da geht es aber auch um die Tatsache, dass die Kirche leider auch in Australien seit Jahrzehnten systematisch Missbrauch vertuscht hat, dass schrecklicher Missbrauch jahrzehntelang verübt wurde.

Dass es nun einen erwischt hat, der offenbar tatsächlich unschuldig ist, nach Meinung der Richter und übrigens auch nach Meinung vieler Beobachter, jemand, der als Erzbischof von Melbourne übrigens als Erster strenge Regeln zum Melden von Missbrauch damals eingeführt hat, das ist etwas, was die Sache noch schwerer wiegen lässt und was die öffentliche Diskussion in Australien unheimlich polarisiert. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass diese Diskussion nicht beendet ist, dass wir weitere Verfahren – möglicherweise auch zivilrechtlich – in Australien sehen werden und möglicherweise auch Ermittlungen der Glaubenskongregation im Vatikan.

DOMRADIO.DE: Mehr als ein Jahr hat Kardinal Pell nun im Gefängnis gesessen, heute kommt er frei. Was erwarten Sie? Bleibt er in Australien oder wird es für ihn möglich, wieder im Vatikan Aufgaben zu übernehmen?

Wimmer: Da sprechen Sie einen ganz wichtigen Punkt an. Das liegt auch an der Reaktion von Papst Franziskus und der Kurie. Er ist ja weiterhin Kardinal. Man hat das explizit entschieden, damit er weiter Kardinal sein kann, falls er unschuldig ist. Die Frage ist: Wird er aber auch wieder Berater im Kardinalsstab? Als Finanzchef ist er ja abgetreten. Ob er in Australien bleibt, quasi im Ruhestand, das werden wir sehen müssen. Er ist übrigens heute sofort aus dem Gefängnis in ein Kloster in Melbourne gebracht worden, wo er sich derzeit aufhält, bei Karmelitinnen.

Das Interview führte Dagmar Peters.


Quelle:
DR