"Gott mit uns" stand 1914 auf den Fahnen und Gürteln der deutschen Soldaten. Als sie in den Ersten Weltkrieg zogen, war die evangelische Kirche ein Teil der begeisterten Massen. 100 Jahre später ist das kaum denkbar. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht der Berliner Kirchenhistoriker Christoph Markschies über Masseneuphorie und Irrtümer, das wilhelminische Verständnis vom Gottesgnadentum und den langen Weg des Protestantismus hin zu seinem kritischen Verhältnis zu Krieg und Militär.
epd: Nach dem Beschluss zur Mobilmachung am 1. August stimmten Tausende, die vor das Berliner Schloss geströmt waren, "Nun danket alle Gott" an. War damals noch Protestantismus gleichzusetzen mit Patriotismus?
Christoph Markschies: Religion ist ja nie so einfach zu trennen von anderen Dimensionen menschlichen Lebens. Zur Religion gehörten auch damals nicht nur der Sonntagsgottesdienst und die Kasualien wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung. Sie umfasste die Gesamtwirklichkeit des Lebens - und damit auch das patriotische Leben vieler Deutscher. Insofern implizierte Protestantismus auch ganz selbstverständlich Patriotismus.
epd: Die Masseneuphorie der ersten Kriegstage ist als "Augusterlebnis" in die Geschichte eingegangen. Welche Rolle spielte dabei die Kirche?
Markschies: Die Kirche war in vorderster Front bei der Erweckung des Nationalbewusstseins mit dabei - wie andere gesellschaftliche Kreise auch. Sie war zugleich ein selbstverständlicher Teil der euphorisierten Massen und hat mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln diese Euphorisierung noch befördert - mit Predigten beispielsweise. So wurde etwa die Neutralität Belgiens zur "quantité négligeable", zur vernachlässigbaren Größe, erklärt. Der renommierte Berliner Theologe Reinhold Seeberg hat bis 1918 die These vertreten: Wenn man im Zuge der "Verteidigung des Vaterlandes" einen belgischen Soldaten erschießt, vollstreckt man das Werk der Nächstenliebe Christi an ihm.
epd: Der deutsche Kaiser war als preußischer König "von Gottes Gnaden" zugleich Oberhaupt der evangelischen Landeskirche. Was bedeutete das für ihn?
Markschies: Kaiser Wilhelm II. hat im Unterschied zu vielen Politikern in seiner Umgebung das Gottesgnadentum sehr ernst genommen. Das bedeutete umgekehrt auch: Er glaubte, seine Macht nicht aus eigener Vollkommenheit zu besitzen, sondern weil sie ihm von Gott als Mandat übertragen wurde. Kaiser Wilhelm II. war ein erwecklich geprägter Protestant. Er wollte, dass fromm die Hände gefaltet wurden, aber wandelte auch auf den Spuren eines sehr stark als Helden modellierten Christus.
epd: In der Julikrise 1914 waren Vermittlungsversuche und Friedensbemühungen von Papst Benedikt XV. ohne Erfolg geblieben. Warum fand er beim deutschen Kaiser kein Gehör?
Markschies: Der Papst war für den Kaiser in diesen Tagen keine wichtige Figur. Wilhelm II. war eher interessiert an den deutschen Katholiken. Er hatte aber wohl nie wirklich begriffen, dass Katholizismus eine globalisierte Religion war - ganz im Gegensatz zum Protestantismus.
epd: Hofprediger Ernst von Dryander sagte am 4. August zur Eröffnung einer Reichstagssitzung: "In unerhörtem Frevelmut ist Deutschland ein Krieg aufgezwungen worden." War das die einhellige Meinung der evangelischen Christen, oder gab es auch kritische Stimmen?
Markschies: Wir kommen auf relativ kleine Mengen kritischer Stimmen, weil viele den Krieg auch als große Gelegenheit zur Neuevangelisierung des Reiches sahen. Eine kritische Stimme war die von Karl Barth, der freilich Schweizer und nicht Preuße war. Ein anderes Beispiel war der Berliner Neutestamentler Gustav Adolf Deißmann, der sich nach anfänglich sehr nationalistischen Äußerungen im späteren Verlauf des Krieges sehr stark um Frieden und Versöhnung bemüht hat.
epd: Wie konnte sich die Kirche so irren?
Markschies: Die evangelische Kirche verfügte ja nicht über bessere politische Diagnosemöglichkeiten als jeder andere Zeitgenosse auch. Und sie war so blind, wie es die gesamte Bevölkerung war. Das ist für Nachgeborene schmerzlich nachzuvollziehen. Aber Protestanten wie dem Hofprediger Dryander und vielen anderen war die himmlische Weisheit nicht in einer Direktoffenbarung eingefüttert worden. Sie haben sich so schrecklich geirrt wie ihre Mitbürger auch.
epd: Auf dem Koppelschloss der deutschen Soldaten standen die Worte "Gott mit uns". War er nicht bei den Gegnern?
Markschies: Der Satz auf den Koppelschlössern ist ein kleines Zeichen der betonten "Christlichkeit" eines Staates, für die es spätestens seit der Weimarer Reichsverfassung auch aus theologischer Sicht keine Rechtfertigung mehr geben kann. Was damals mehrheitsfähig und selbstverständlich war, empfinden viele heute als schlimme Gotteslästerung und als eine sehr bittere Funktionalisierung von Religion für gesellschaftliche Zwecke. Wir haben die Erfahrung von zwei Weltkriegen in den Knochen und können mit dieser Frage anders umgehen als die Menschen damals. Wir müssen aber gerade deswegen selbstkritisch die Frage stellen: Hätten wir damals 1914 auch vor dem Berliner Schloss 'Hurra' geschrien, oder hätten wir gesagt: Hier geschieht Ungeheuerliches?
epd: Das Ende des Ersten Weltkriegs und das Ende der Monarchie bedeuteten auch für die evangelische Kirche einen Umbruch. Gab es in der Weimarer Republik eine selbstkritische Reflexion über die Rolle der Kirche im Krieg?
Markschies: Nur eine Minderheit der evangelischen Theologen stellte sich auf die Seite der Republik, etwa Adolf von Harnack, einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit. Er galt anderen aber als Verräter und wurde beispielsweise vom Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen als "elender Demokrat" bezeichnet. Harnack und seine Mitstreiter wollten die Deutschen mit dem Gedanken vertraut machen, dass sie bezahlen mussten für die deutsche Mitschuld am Ersten Weltkrieg. Zugleich versuchten sie, die Siegermächte von übertriebenen Reparationsforderungen abzubringen. Sie hatten es aber in Kirche und Theologie schwer.
epd: Wie stark wirkte sich das militaristische Erbe der Kaiserzeit noch auf den Kirchenkampf der NS-Zeit und auf die Bekennende Kirche aus?
Markschies: Natürlich war die Bekennende Kirche von diesem preußischen Erbe geprägt. So hat sie niemals zur Wehrdienstverweigerung aufgerufen. Und Martin Niemöller hat selbst gesagt, dass er bei der Leitung der Kirchenverwaltung der hessen-nassauischen Kirche in Darmstadt nach dem Zweiten Weltkrieg die Organisationsprinzipien eines U-Boots zu Grunde legte, wie er es im Ersten Weltkrieg kommandiert hat.
epd: Die evangelische Kirche hat heute zu Militär und Krieg ein kritisches Verhältnis. Wann setzte dieser Wandel ein?
Markschies: Der Wandel hat ganz vorsichtig schon nach dem Ersten Weltkrieg begonnen, in einer ganz kleinen Minderheit. Er hat sich etwas stärker durchgesetzt in der evangelischen Kirche, als unmittelbar nach 1945 das Entsetzen und die Ablehnung von Militärdienst sehr stark war. Aber auch die Kirchentage der 50er Jahre waren noch geprägt von bekenntnisorientierten Generalstabsoffizieren oder erweckten preußischen Adligen wie Reinhold von Thadden. Der große Kulturbruch kam erst Ende der 60er Jahre, als die Studentenbewegung Männlichkeitskultur und Heldentum infrage stellte. Von diesem Kulturbruch wurde die evangelische Kirche in massiver Gestalt erfasst.
epd: Ist die Rolle, die die evangelische Kirche und auch die wissenschaftliche Theologie im Ersten Weltkrieg gespielt haben, hinreichend erforscht?
Markschies: Dieses Erbe ist immer noch nicht genügend aufgearbeitet. Gerade die Erforschung der Rolle Reinhold Seebergs ist eine Aufgabe, die sich auch meine Berliner Fakultät stärker auf die Fahnen schreiben muss. Wir sollten noch präziser darüber informieren. dass wir in Berlin nicht nur eine Lichtgeschichte mit Schleiermacher und Harnack, sondern dass wir auch eine sehr dunkle Geschichte mit Reinhold Seeberg haben.
Das Interview führte Thomas Schiller.