Ach, der gute alte Luther, wie wunderbar hat er die Worte der Bibel in die Deutsche Sprache übersetzt. Ich fürchte, meine Kinder kennen das Wort "versehren" schon gar nicht mehr. In meiner Jugend nahm mich mein Vater öfter mit ins Hallenbad, wenn sein "Versehrten-Verein" am Abend dort trainierte. Kriegsverletzungen jeder Art, Behinderte so weit das Auge reichte. Hier fehlte ein Arm, dort beide Beine, in der Umkleidekabine stapelten sich die Prothesen. Die Laune war meistens prächtig, es wurde gestänkert und gelacht – nicht selten über den behinderten, geschundenen, verkrüppelten – eben den versehrten Körper.
Wenn ich heute hier durch die Sonne in Köln am Dom vorbei in unseren Multimediasender gehe, zeigt sich ein völlig anderes Bild – von den wenigen behinderten Bettlern in den Schattenecken des Doms mal abgesehen. Die Selfie-Generation bringt sich in Positur. Es gibt wirklich nichts, was es nicht gibt! Nichts, was nicht in alle Welt gepostet wird. Welcher Kontrast – hier der Jugendliche, der seinen mit Protein aufgepumpten bloßen Oberkörper stolz präsentiert – dort die bis oben hin verschleierte Muslimin. Eine Senioren-Fahrradtruppe mit ihren E-Bikes, die in viel zu enger Sportfunktionskleidung auf "Tour de France" macht, neben der kreischenden, kaum noch bekleideten Teeniegruppe, die sich für Snapchat oder Instagram in "Germanys-Next-Top-Model"-Pose wirft. Aufgespritzte Lippen hier – Tattoos dort. Selbst an Stellen, die auch im Freibad nicht unbedingt jeder sehen möchte. Vor dem Dom schwitzt in seinem roten Arbeitstalar ein Domschweizer, den die meisten Passanten vermutlich für einen Kleriker halten, der der überalterten Kirche ein Gesicht gibt. Mitten im Gewusel malt in zerfetzt ausgefranzter Jeans ein bunter Straßenkünstler, zwei indische Ordensschwestern drängeln sich durch eine japanische Reisegruppe, um noch vor dieser Sightseeing-Videogruppe in den Dom zu gelangen …
Alles meine Brüdern und Schwestern. Jeder Einzelne! Selbst wenn einer von denen gleich schwitzend und unangenehm müffelnd neben mir in der Bahn stehen sollte. Ob versehrt, verehrt oder noch nicht bekehrt – alles Söhne und Töchter des einen himmlischen Vaters. Die Güte des Herrn reicht bekanntlich soweit der Himmel reicht … (Ps 36,6). Auch wenn ich Kleingläubiger mir das überhaupt nicht vorstellen kann.
Gott, der Herr, lässt seine Sonne aufgehen, über Bösen und Guten. Selbst wenn der dringend benötigte Regen über Gerechten und Ungerechten (Mt 5,45) in diesen Tagen noch auf sich warten lässt. Wie schon die hitzegeplagten Menschen zu biblischen Urzeiten hoffen wir mit dem Psalmisten auf den Herrn: "Der Herr ist Dein Hüter, der Herr gibt Dir Schatten. Bei Tage versehrt Dich die Sonne nicht und nicht der Mond in der Nacht! Gott der Herr behütet Dich vor allem Bösen. Er behütet Deine Seele!" (Ps 121, 5 ff).
Ihr
Ingo Brüggenjürgen
Chefredakteur
P.S.: Die Hitze hier am Dom ist bisweilen schon ungemütlich, zumal nur Studio und Serveraum in unserem Multimediasender gekühlt werden. Die Priorität beim Hitzeschutz „Maschine vor Mensch“, darf im Zeitalter des drohenden Klimawandels noch mal überprüft werden. Gerne dürfen Sie inzwischen die Musik in „ihrem guten Draht nach oben“ überprüfen. Unsere Musikredaktion kennt einfach kein Erbarmen und hat die heißesten Sommerhits des Jahres angekündigt … ;-)