Wackelige Knie sollte man nicht haben, wenn man vor der großen Domgemeinde steht und dieser Gottesdienst gerade zeitgleich im Internet übertragen wird. Und eine zitternde Stimme schon gar nicht. Eher bedarf ein solcher Live-Auftritt starker Nerven und natürlich auch einer gewissen Portion Routine. Für beides steht Eva-Maria Will, seit über zehn Jahren ehrenamtliche Lektorin im Kölner Dom, auch wenn sie einräumt, dass sie selbst heute noch bei jedem Festhochamt ein bisschen Lampenfieber habe. "Beim allerersten Mal hat mir das Herz sogar bis zum Hals geschlagen", erinnert sich die Theologin, die sonst im Erzbistum als Referentin für die Trauerpastoral zuständig ist. "So aufgeregt war ich damals auf dem Weg zum Ambo, um die Lesung vorzutragen." Das hänge sicher, mutmaßt sie selbst, mit der großen Verantwortung zusammen, die sie jedes Mal spüre und die ja mit der Zeit auch nicht weniger werde.
"Schließlich ist mein Dienst Verkündigung, und den will ich so ausüben, dass die Worte der Heiligen Schrift auch einen Adressaten finden und an meinem Gegenüber nicht einfach so abprallen, selbst wenn sich der mitunter sperrige Inhalt nicht gleich im ersten Moment erschließt. Ich möchte die Menschen mit ‚meinem’ Text erreichen und würde mir wünschen, dass sie sich von ihm berühren lassen, er bestenfalls sogar etwas bewirkt." Was sich manchmal an dem wachen Blick der Zuhörer ablesen lasse, wie die erfahrene Lektorin aufmerksam wahrnimmt. "Das freut mich dann, wenn ich feststelle, dass das Gesagte nicht einfach verhallt." Schließlich bereite sie sich immer gewissenhaft vor. "Denn es gibt ja Passagen, die es in sich haben und die ich selbst verstanden haben muss, um damit auch bei anderen einen Nerv zu treffen. Immerhin soll jeder einen größtmöglichen geistlichen Gewinn für sich daraus ziehen."
Die Bibel als Urkunde des christlichen Glaubens
Daher ist für Will der Ambo, das Lesepult auf der Südseite der Vierung, einer dieser besonderen Orte, an denen sie regelmäßig die Faszination dieses gewaltigen Kirchenraumes mit seiner jahrhundertealten Geschichte erlebt – dann, wenn es ganz still wird, kurz bevor sie zum Lesen ansetzt, Orgel und Chor schweigen und Gott selbst zu Wort kommt. "Ich trage ja keinen Sachtext vor oder informiere die Gläubigen über ein weitentferntes Ereignis aus der Vergangenheit. Die Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament, das, was die Menschen vor einigen tausend Jahren als Offenbarung, Vision oder Ermutigung erfahren und aufgeschrieben haben, ist für uns Christen immer noch aktuell; gewissermaßen die Quelle, aus der auch wir Kraft für unser tägliches Leben schöpfen können, die uns inspiriert, wenn wir es nur zulassen."
Um sich das klar zu machen und nachempfinden zu können, was das Wesen einer solchen Überlieferung sei, um welche Kernaussagen es dabei dem jeweiligen Verfasser gehe, bedürfe es einer eingehenden Beschäftigung damit. "Man muss ein Gefühl für Sprache haben, wissen, was besonders betont werden sollte, und einen Sinn für die anschaulichen Metaphern der damaligen Zeit mitbringen", erklärt die 58-Jährige. "Die Heilige Schrift lesen heißt, von Christus Rat holen." So habe sich der Heilige Franz von Assisi einmal ausgedrückt. "Und da gibt es so vieles, was uns weiterhilft und Alltagsbegleiter sein kann, wenn wir nicht mehr weiter wissen. In der Bibel ist das zusammengefasst, was unseren Glauben ausmacht. Nicht umsonst wird sie auch als Urkunde des christlichen Glaubens bezeichnet."
Aha-Momente beim Mittagsgebet
Aus dem Vollen dieses überreichen Fundus an Glaubenszeugnissen schöpfen – das tut Eva-Maria Will auch, wenn sie einmal wöchentlich um 12 Uhr am Ambo den Mittagsimpuls leitet. Dann trifft sie mit diesem Angebot, das im Dom seit Jahren fest verankert ist, auf die zufälligen Flaneure und Touristen, denen sie mal eben en passant in wenigen Minuten eine geistliche Botschaft mitgeben will. Aber sie hat auch die Besucher im Blick, die ihren Tag bewusst für eine kurze Zeit der Besinnung und des Gebets unterbrechen und dankbar sind für eine Anregung, die vom Einerlei ihrer ansonsten hektischen Geschäftigkeit wohltuend ablenkt.
"Dieser gestalterische Freiraum, einen Psalm oder einen anderen zum Tag oder diesem Ort passenden Impuls auszuwählen – die Heiligen Drei Könige sind eigentlich immer irgendwie mit dabei – bedeutet mir viel. Es macht mir Freude, ein solches Wort – im Wechselspiel mit einer Orgelmeditation – in den Raum zu geben, während die Menschen rücksichtsvoller als vorher ihren Rundgang fortsetzen oder oft auch ihr Programm völlig überrascht unterbrechen." Denn kaum jemand erwarte in diesem Augenblick tatsächlich eine Stimme, die Gott ins Spiel bringe, bemerkt Will. "Das sind dann für den Einzelnen sicher immer mal wieder Aha-Momente. Denn ich bin gewiss, dass viele von einem solchen Erlebnis etwas mitnehmen."
Lektorendienst erfüllt mit Ehrfurcht und Demut
Früher sei an dieser Stelle immer der "Engel des Herrn" gebetet worden, den heute aber kaum noch jemand kenne, so dass selten Resonanz gekommen sei. "Das war dann schade", bedauert sie. "Also versuche ich, bei den Themen anzuknüpfen, die uns alle berühren und gleichzeitig den Dom vor allem als geistlichen Ort erschließen. Dazu gehört auch, alle mit dem Vaterunser und einem Segensgebet zu entlassen." Eine willkommene Abwechslung sei in der Ferienzeit zudem schon mal ein Chor, der sich gerade auf Reisen befände und glücklich schätze, ausgerechnet im Kölner Dom singen zu dürfen.
Nicht selten bekommt Will nach einer Sonntagsmesse oder einem Mittagsimpuls eine positive Rückmeldung auf ihren Dienst am Ambo. "Das zeigt, dass Frauen in dieser Funktion für manch einen noch immer keine Selbstverständlichkeit sind oder sie es aus ihrer Heimatgemeinde womöglich anders kennen. Das überrascht mich immer wieder." Schließlich sei das in allen Diözesen längst gang und gäbe. "In Köln sind die Hälfte aller Lektoren Frauen und in dieser Funktion – wie auch im Ministranten-, Kantoren- oder Kommunionhelferdienst – gar nicht mehr aus der Liturgie wegzudenken. Wenn wir Frauen Gottesdienste mitgestalten, bringen wir eben auch immer unsere weibliche Lebenswirklichkeit mit ein."
Bis heute erfülle sie der Dienst so nah am Altar mit Ehrfurcht und Demut zugleich, sagt Will. "An einem großartigen Ort wie dem Kölner Dom mit einer so bedeutsamen Geschichte Teil der Liturgie sein zu dürfen, empfinde ich jedes Mal als besondere Ehre."