Anita White (27) studiert in Washington Bestattungswesen - an der University of the District of Columbia, einer staatlichen Universität in der US-Hauptstadt. Nebenbei verdient die zweifache Mutter, die ihre Kinder allein erzieht, in einem Kulturzentrum Geld an der Abendkasse. Was sie dort bekommt, reicht jedoch nicht, um den Lebensunterhalt für ihre Familie zu bestreiten.
Nahezu unbezahlbar sind die Mieten in Washington, die Jahr für Jahr neue Höhen erreichen. Selbst fernab vom Zentrum liegt der mittlere Preis für eine bescheidene Wohnung bei 1.300 US-Dollar. Zu viel für White, ihre fünfjährige Tochter und ihren neunjährigen Sohn, die gemeinsam schon zweimal vor der Obdachlosigkeit standen.
Mangel an bezahlbaren Wohnungen
Die Geschichte der Afroamerikanerin ist für Experten nicht überraschend. «Es gibt hier keine neuen Obdachlosen», sagt Michael Ferrell, der als Direktor des Obdachlosenhilfe-Netzwerks Coalition for the Homeless für zehn Notunterkünfte zuständig ist. «Das einzige Neue ist der Mangel an bezahlbaren Wohnungen.»
Wie groß die Krise in der US-Hauptstadt ist, lässt sich für Besucher schon am Straßenbild ablesen: Im vornehmen Penn Quarter sitzen die Gestrandeten in den Eingängen der Gourmet-Restaurants, wärmen sich auf den Gittern über den Abluftschächten von Banken und Museen auf oder haben ihr Quartier auf den Parkbänken neben den historischen Monumenten des Districts aufgeschlagen.
Es gibt auch eine Zahl, die das Elend dokumentiert. Erhoben wird sie einmal im Jahr bei einer aufwendigen Zählung. Landesweit schwirren dann freiwillige Helfer in den Großstädten aus, um die schwer erreichbaren Obdachlosen so gut es geht zu erfassen. In Washington kamen die Freiwilligen zuletzt auf mehr als 8.300 Menschen, die kein festes Dach über dem Kopf haben. 318 davon leben permanent auf der Straße, für 6.259 gibt es Notunterkünfte und 1.733 haben das «Glück», eine Übergangswohnung gefunden zu haben.
Bürgermeisterin will Betroffene von der Straße holen
Laut der gemeinnützigen Organisation Community Partnership for the Prevention of Homelessness, die diese Zahlen veröffentlicht hat, liegt Washington im Pro-Kopf-Vergleich an der Spitze aller 32 US-Metropolen, die sich an der Erhebung beteiligten.
Die Bürgermeisterin der Stadt, Muriel Bowser, hat es im Unterschied zu ihren Vorgängern zu einer Priorität gemacht, die Betroffenen von der Straße zu holen. Vor allem im Winter, wenn in der Stadt eisige Temperaturen wie etwa in Berlin herrschen können. Die Bemühungen blieben nicht ohne Erfolg. Während Washington D.C. das Obdachlosen-Ranking anführt, liegt die Stadt auch vorn bei deren Notunterbringung.
Auch White hat mit ihren Kindern eine vorübergehende Bleibe in den speziell für obdachlose Familien gedachten Valley Place Family Apartments gefunden - gleich gegenüber dem begehrten Neubaugebiet Navy Yard, einem Gelände der einstigen Marinewerft. «Vor allem für junge Mütter ist es schwer, alles unter einen Hut zu bringen», sagt Nicole Baptiste, die das Valley-Place-Programm betreibt. Oft stünden diese vor der Quadratur des Kreises. Sie bräuchten einen Job, um sich für Kinderbetreuungsplätze zu qualifizieren, fänden aber nur schwer einen, weil sie nicht wüssten, was sie bis dahin mit ihren Kleinen machen sollten.
Wartezeiten für Platz in der Notunterkunft
Ein anderes Problem sind die Wartezeiten für reguläre Plätze in den Notunterkünften. Der Präsident des Armenhilfe-Netzwerks Catholic Charities in Washington, John Enzler, nennt die Krise ein «moralisches Problem» für die an sich reiche Stadt. Zusammen mit anderen Aktivisten gedachte Enzler im Dezember der 46 Obdachlosen, die 2016 auf den Straßen Washingtons ums Leben kamen.
Jesse Rabinowitz von der Obdachlosenhilfe Miriam's Kitchen meint, er kenne mehr als einen Fall, bei dem eine Person erst nach ihrem Tod die Zusage für eine Unterkunft erhalten habe. Sein Appell: «Es wird Zeit, dass Washington endlich genügend sozialen Wohnungsraum schafft, damit solche Tragödien vermieden werden.»