DOMRADIO.DE: Seit fast 30 Jahren setzt sich der Afghanische Frauenverein für Frauen und Kinder im Land ein. Wie haben denn Ihre Projektpartnerinnen auf die Nachricht vom Abzug der NATO-Truppen reagiert?
Nadia Nashir (Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins): Erstaunlich wenig, aber ich denke, die sind genauso wie wir in der Wartestellung. Aber ich vermute auch, dass sie uns diesbezüglich kennen, weil wir sie immer neu informieren und ihnen Nachrichten weitergeben, wenn es etwas Neues gibt.
DOMRADIO.DE: Sie haben Schulen für Mädchen gegründet, Berufsausbildungen möglich gemacht. Sie kümmern sich um Trinkwasserversorgung und Gesundheitsfürsorge. Sind denn diese Projekte jetzt gefährdet?
Nashir: Im Gegenteil, alles läuft momentan sehr gut. Unsere Schulen vergrößern sich. Wir haben drei neue Projekte aufgenommen und haben vier Pilotprojekte. Allerdings sind die Menschen, vor allem die Frauen, beunruhigt. Sie sind in Sorge, weil sie nicht wissen, was sie in Folge dieses Friedensvertrags erwartet und was da passiert.
DOMRADIO.DE: In Afghanistan arbeiten viele Mitarbeiterinnen mit großem Engagement und Risiko - als Projektleiterinnen, als Lehrerinnen, Ärztinnen, Hebammen. Was bedeutet der Abzug für die Mitarbeiter?
Nashir: Ich habe heute und gestern mehrere Male mit allen Projektleitern telefoniert. Wir haben inzwischen über 180 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Sie haben die Sparten der Berufe genannt. Die sind verunsichert. Sie haben Angst, dass ein Vakuum entsteht, vor allem, weil die Taliban auch kein genaues Konzept haben. Und sie erwarten und erhoffen, dass die internationale Gemeinschaft sich einbringt. Ein Krieg wäre ja keine Lösung, sondern Verhandlungen mit allen Beteiligten.
DOMRADIO.DE: Sie besuchen selber regelmäßig Afghanistan. Wie hat sich denn generell der Status der Frauen im Land entwickelt?
Nashir: In Gebieten, wo es unruhig ist, da herrscht quasi Anarchie. Je schwächer die Regierung ist, desto schlimmer ist die Lage für die Frauen. In den Städten, wo es einigermaßen stabil ist, ist es so geblieben, wie es bisher war. Vor allem die jungen Leute sind ein Hoffnungsträger. Über 70 Prozent der Afghanen sind ja unter 20 Jahre und sie lassen sich nicht biegen. Sie wehren sich im Vergleich zu den älteren Generationen, zu der ersten Generation. Die muss man ganz stark unterstützen.
DOMRADIO.DE: Macht sich da eine Atmosphäre von Aufbruch bei den Mädchen und Frauen bemerkbar?
Nashir: Ja, auf jeden Fall - bei vielen unserer Projekte. Wie mutig und mit was für einem Elan sie auch weiterhin zu den Schulen und zu den Projekten gehen und auch die Gefahr auf sich nehmen, ist unglaublich. Das sind starke Frauen und sie sollte man auf jeden Fall unterstützen. Vor allem auch in der Frage der Menschenrechte, das ist ja eine ganz wichtige Sache. Viele sagen, die afghanische Verfassung muss akzeptiert werden. Im Verhältnis zu den Nachbarländern hat Afghanistan eine relativ liberale Verfassung. So jedenfalls steht es auf dem Papier und es wird ja nicht praktiziert.
Aber dennoch: Wir haben natürlich auch die Befürchtung, dass die Lage sich verschlechtern könnte. Und da spielt die internationale Gemeinschaft auch eine wichtige Rolle. Die afghanische Regierung wird ja auch gar nicht beteiligt bei den Verhandlungen. Sie haben Angst, dass ein Vakuum entsteht und dass die internationale Gemeinschaft und vor allem Deutschland eine Rolle darin spielen, auch bei den politischen Verhandlungen dabei zu sein.
DOMRADIO.DE: Auch über tausend deutsche Soldaten werden abgezogen. Bundesaußenminister Heiko Maas hat aber angekündigt, dass man die afghanische Regierung weiter unterstützen werde - mit Geld, mit militärischer Ausrüstung und Ausbildung. Wie viel Vertrauen setzen Sie in diese Maßnahmen?
Nashir: Großes Vertrauen - Deutschland und Afghanistan verbindet eine über 100-jährige Freundschaft. Als ich die Tage auch mit unseren Mitarbeitern darüber sprach, haben sie gesagt, andere Länder brachten den Krieg, aber Deutschland bringt Wiederaufbau.
Dennoch: Wenn ich jetzt sehe, in den letzten 20 Jahren hat Deutschland über 12 Milliarden Euro ausgegeben. 3,5 Milliarden davon, glaube ich, für humanitäre Zwecke und der Rest für das Militär. Da muss ein Ausgleich her. Es müssen viel mehr zivile Projekte initiiert werden. Es müssen kleinere Hilfsorganisationen wie wir beteiligt werden und für diese Entwicklungshilfe müssen auch die Gelder vergeben werden. Nicht nur für die großen, sondern für alle. Das wäre sehr wichtig.
Das Interview führte Heike Sicconi.