Die Missbrauchsbeauftragte legt eine Zwischenbilanz vor

"Das Wichtigste sind Therapie und Beratung"

Über 8.200 Anrufe und Briefe sind bei der Anlaufstelle der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung inzwischen eingegangen. Seit dem Start vor sechs Monaten schildern Betroffene Christine Bergmann und ihrem Team erschütternde Erlebnisse.

Autor/in:
Karin Wollschläger
 (DR)

"Dabei geht es zunehmend um Fälle von Missbrauch in Familien", berichtete die SPD-Politikerin bei der Vorstellung ihres Zwischenberichts am Donnerstag in Berlin. "Zu Anfang haben die meisten Anrufer von Missbräuchen in Institutionen erzählt", sagt Bergmann. "Inzwischen überwiegt der Missbrauch im familiären Umfeld mit insgesamt 44 Prozent."



Inzwischen heißt: nach dem Start einer großen Kampagne "Sprechen hilft" mit TV-Spots und Anzeigen im September. Die Aktion, so die Mitarbeiter, führte zu einen regelrechten Ansturm auf die Anlaufstelle. "Im Zuge dessen haben sich plötzlich doppelt so viele Betroffene bei uns gemeldet", erläutert Bergmann. Und: Das Alter der Anrufer sinkt. Der jüngste Anrufer war 8, der älteste 81 Jahre. Der Durchschnitt liegt bei 45 Jahren. Analog nimmt die Zahl der geschilderten aktuellen Fälle zu und liegt derzeit bei 8 Prozent. Demgegenüber stehen 92 Prozent Altfälle.



Viele der Anrufer sprechen zum ersten Mal über ihre Missbrauchserlebnisse. "Da kann so ein Gespräch auch schon mal zweieinhalb Stunden dauern", erzählt Bergmann. Die meisten sagten:

"Das Gute an der Anlaufstelle ist: Ich muss nicht erst erklären, worum es geht, was mein Problem ist. Und es ist anonym." Dadurch täten sich die Anrufer - 63 Prozent sind Opfer, 16 Prozent Kontaktpersonen, 1,3 Prozent Täter - leichter, über das sensible, intime Thema zu reden. Entsprechend wird auch der Wunsch lauter, die Stelle der Missbrauchsbeauftragten zu einer permanenten Institution zu machen.



Von den Betroffenen sind fast zwei Drittel Frauen (63 Prozent).  "Dabei fällt auf, dass meist die Männer den Missbrauch in Institutionen erlitten haben, die Frauen als Mädchen im familiären Umfeld", berichtet die frühere Bundesfamilienministerin. Beiden gemeinsam ist, dass der Missbrauch in der Regel über einen längeren Zeitraum quasi chronisch war. So berichteten 90 Prozent der Betroffenen von wiederkehrendem, mehrfachem Missbrauch.



Pikant ist eine Zahl für die geschilderten Missbräuche in Institutionen: Knapp die Hälfte der Fälle (47 Prozent) betrifft laut Bergmann katholische Einrichtungen. Bereits am Mittwoch hatte die Deutsche Bischofskonferenz einen Zwischenbericht zu ihrer Hotline für Missbrauchsopfer vorgelegt, die seit dem Sommer insgesamt 3.431 Telefongespräche und 213 Internetberatungen verzeichnet. Hier thematisierten 664 Betroffene Sexualdelikte aus dem kirchlichen Umfeld. Über 400 Fälle seien angeblich durch Priester oder Ordensleute begangen worden.



Mit Blick auf die Wünsche der Anrufer sagte Bergmann: "Nach wie vor stehen Beratung und Therapie an vorderster Stelle." Erst dann folgt die Frage nach Entschädigungen und Verjährungsfristen. An dritter Stelle stehe der Wunsch nach besserer Vorbeugung, Aufklärung und Sensibilisierung der Gesellschaft. "Ganz viele sagen uns: Schützt die Kinder! Ihnen darf niemals so etwas passieren, wie mir passiert ist", erzählt Bergmann.



Am Mittwoch kommt der von der Regierung initiierte Runde Tisch zum Thema Kindesmissbrauch zu seiner nächsten Plenumssitzung zusammen. Dann will das Gremium einen ersten Zwischenbericht vorlegen. Unklar bleibt, ob auch Betroffene hier einen festen Platz bekommen, wie etwa beim Runden Tisch Heimerziehung. Vor zwei Wochen waren die Bundesministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Kristina Schröder und Annette Schavan (beide CDU) sowie weitere 30 Mitglieder des Runden Tisches mit Opfern sexuellen Missbrauchs zusammengekommen. Sie hörten, wie verschiedene Teilnehmer sagten, "erschütternde Schilderungen". Fünf Stunden dauerte das Gespräch. Eine Einladung an den Runden Tisch folgte noch nicht.