DOMRADIO.DE: Wie ungewöhnlich ist es, dass der emeritierte Papst sich öffentlich zu Wort meldet? (zum Wortlaut)
Mathias Peter (DOMRADIO.DE-Theologie-Redaktion): Das ist schon selten der Fall, aber es kommt eben ab und zu vor. Benedikt selbst hat ja bei seinem Rücktritt gesagt, dass er fortan im Verborgenen leben möchte – das hat aber nicht so geklappt, immer wieder hat er sich schriftlich geäußert, sei es, als Werke von ihm neu herausgegeben worden sind, oder als ein Interviewbuch mit ihm erschienen ist, bis hin zu Artikeln, die er neu geschrieben hat.
Aber: Dies geschieht immer mit Zustimmung des aktuellen Papstes. Auch dieser neue Text ist nach Angabe von Benedikt in Abstimmung mit dem Vatikan verfasst worden.
DOMRADIO.DE: Nun wird in Deutschland viel beim Thema Missbrauch über Machtmissbrauch durch Kleriker diskutiert, über Strukturen in der Kirche, die Missbrauch begünstigen. Wie argumentiert in diesem Zusammenhang Joseph Ratzinger?
Mathias Peter: Er legt eine andere Analyse vor. Benedikt führt aus, wie seiner Meinung nach durch die Revolte der 68er Generation in der Zeit von 1960 bis 1980 "die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen" seien. Seiner Meinung nach ist eine Normlosigkeit entstanden. Zu der Physiognomie der 68er Revolution gehört demnach, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde, so Ratzinger. Zeitgleich habe es einen Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie gegeben.
Selbst Theologieprofessoren und teilweise Bischöfe hätten die Morallehre der Kirche hinterfragt und nicht befolgt. Es gab demnach nicht mehr das Gute, sondern nur noch das relative, im Augenblick und von den Umständen abhängige Bessere. Und: Das Klima in der Priesterausbildung habe sich verändert, es seien in den Priesterseminaren homosexuelle Clubs entstanden, die mehr oder weniger offen agierten. Also: die sexuelle Revolution der 68er verbunden mit dem Zusammenbruch der Morallehre ist mitverantwortlich für den sexuellen Missbrauch in der Kirche. So schreibt er das.
DOMRADIO.DE: Nun ist die Kirche eine Gemeinschaft von Glaubenden. Wie spielt denn nun die Frage nach dem Glauben in den Missbrauchsskandal hinein?
Mathias Peter: Das ist seine Kernthese: "Nur wo der Glaube nicht mehr das Handeln des Menschen bestimmt, sind solche Vergehen möglich", so drückt es Benedikt aus. Dies hat zwei Ebenen: Auf die Gesellschaft bezogen: "Eine Welt ohne Gott kann nur eine Welt ohne Sinn sein. Es gibt dann keine Maßstäbe des Guten oder des Bösen mehr. Dann kann sich nur durchsetzen, was stärker ist als das andere."
So sei es mit der Pädophilie, sie habe sich immer mehr ausgebreitet. Und das hat sie zweitens auch in der Kirche und bei den Priestern getan, was Ratzinger besonders erschütternd findet. Auch innerhalb der Kirche und bei den Priestern gibt es zu wenig Glauben.
DOMRADIO.DE: Soweit die Analyse: Was schlägt der emeritierte Papst als Lösung des Problems vor?
Mathias Peter: Da hat Benedikt eine klare Forderung: Wieder Gott und den Glauben ins Zentrum setzen, und zwar im Denken, Reden und Handeln. Wir müssen demnach wieder lernen, Gott als Grundlage unseres Lebens zu erkennen und nicht als eine irgendwie unwirkliche Floskel beiseite zu lassen – das gilt auch für die Menschen in der Kirche.
Es geht also um eine Erneuerung des Glaubens, nicht der Kirche an sich. Denn Benedikt sagt, dass es natürlich Sünde und Böses in der Kirche gibt. Aber es gibt auch heute die heilige Kirche, die unzerstörbar ist – er möchte also nicht, dass nun so getan wird, als sei an und in der Kirche alles schlecht und die Kirche müsse komplett neu erschaffen werden. Sondern: Die Kirche ist auch heute das Werkzeug, durch das Gott uns rettet – das sagt Ratzinger am Ende seines Textes und dankt dann ausdrücklich Papst Franziskus für sein Wirken als Papst.
DOMRADIO.DE: Gestern Abend wurde der Text bekannt. Wie ist dein persönlicher Eindruck?
Mathias Peter: Man merkt, wie intensiv Benedikt das Geschehen in Kirche und Gesellschaft verfolgt und ihn die Debatte um den sexuellen Missbrauch trotz seiner fast 92 Jahre immer noch umtreibt. Persönliche Erinnerungen an die für ihn sehr aufwühlende Zeit der 68er Proteste verbindet er mit theologischen Überlegungen. Und ich glaube, dass der emeritierte Papst auch darauf hinweisen möchte, dass er als Präfekt der Glaubenskongregation und später als Papst gegen Missbrauch deutlich vorgegangen ist.
Er hat sich als erster Papst überhaupt mit Missbrauchsopfer getroffen und sie haben von ihren schrecklichen Erlebnissen berichtet, ein Beispiel führt er in dem Aufsatz an. Man merkt aber zweitens auch, dass Benedikt immer noch mit den sogenannten 68er hadert – er sieht in den Umwälzungen der 1960er Jahre die Ursache für viele spätere Fehlentwicklungen in Kirche und Gesellschaft – eben auch in Bezug auf den sexuellen Missbrauch.
Man muss aber sagen: Bei dieser Deutung werden ihm wohl längst nicht alle folgen, das zeigen erste Reaktionen heute, zumal es sexuellen Missbrauch in der Kirche schon früher in den 1950er Jahren und davor gab. Auch ist es schade, dass er auf die Themen Machtmissbrauch und strukturelle Gründe für den Missbrauch kaum eingeht. Er sagt, wir müssten keine neue Kirche schaffen, das sei bereits schon versucht worden und gescheitert. Deswegen: Nur der Gehorsam und die Liebe zu Jesus Christus könne den rechten Weg weisen, so drückt es der emeritierte Papst aus.
Das Interview führte Jann-Jakob Loos.