"Arche"-Gründer kritisiert Schulschließungen in der Pandemie

"Die Politik hat gar nichts gemacht"

Die Pandemie hat benachteiligte Familien an die Grenzen des Machbaren gebracht – und darüber hinaus. "Arche"-Gründer Bernd Siggelkow kritisiert die bisherige Linie der Politik und fordert einen Verzicht auf Lockdowns für Schulkinder.

Verzweifelte Eltern: Die Pandemie ist für benachteiligte Familien eine besondere Belastung / © fizkes (shutterstock)
Verzweifelte Eltern: Die Pandemie ist für benachteiligte Familien eine besondere Belastung / © fizkes ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: In der Arche kümmern Sie sich schon seit Langem um sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Da haben Sie hautnah die Folgen von Lockdown und Isolation speziell für diese Gruppe erlebt. Was für Folgen waren das zum Beispiel?

Bernd Siggelkow (evangelischer Pastor und Gründer des christlichen Kinder- und Jugendwerks "Die Arche" in Berlin): Im Grunde war ja schon völlig klar, dass wir in Deutschland abgehängte Kinder haben. Das sind die Kinder, die abhängig vom Einkommen der Eltern gar keine richtige Bildung bekommen. Und es war klar: Wenn die Kinder nicht zur Schule gehen und keine technischen Voraussetzungen haben, werden sie auch kein Homeschooling haben.

Auf der anderen Seite haben wir natürlich auch erleben müssen, dass häusliche Gewalt angestiegen ist und dass die Nöte größer geworden sind. In Berlin zum Beispiel ist das Schulessen kostenlos. Die Archen in Deutschland bieten auch alle ein kostenloses Essen – und durch den Lockdown fiel das weg. Viele Familien waren dadurch natürlich Geldausgaben ausgesetzt, die sie gar nicht hatten und haben dadurch natürlich ganz viele Probleme gehabt.

DOMRADIO.DE: Sie sagen: Wir haben diese Kinder auf dem Gewissen. Was haben wir und was hat die Politik in der Situation falsch gemacht?

Siggelkow: Also eigentlich müsste man sagen, die Politik hat gar nichts gemacht. Das ist das große Problem. Es wurde weder ein Kind gefragt, was es von Lockdown und Schulschließungen hält, wie es ihm geht, wie man ihm helfen kann. Wir haben Kinder zu Hause besucht, jede Woche, obwohl ein Lockdown war. Wir haben Lebensmittel nach Hause gebracht und wir haben zerrüttete Familien gesehen. Wir haben gesehen, wie Familien mit sieben Personen auf engstem Raum auf 70 Quadratmeter zusammenleben müssen. Natürlich hat dort keiner einen Rückzugsort – und keiner hat das bedacht.

Auf der anderen Seite waren die Menschen 24/7 zu Hause. Die ganzen Kosten für die Energieversorger sind gestiegen. Jetzt kommen die ganzen Nachzahlungen, die Hartz IV ja zum Beispiel nicht bezahlt. Das heißt, auch dort kommt eine riesige Belastung auf die Familien zu. Die Lebenshaltungskosten sind ja mittlerweile auch in die Höhe geschnellt – und der Hartz-IV-Satz ist zum 1. Januar 2022 um drei Euro erhöht worden. Das heißt, es trifft wieder die Ärmsten der Armen mit diesen ganzen Preiserhöhungen. Auch das hat man im Lockdown gemerkt. Alle möglichen Lebensmittel waren nicht mehr da. Die billigen Lebensmittel sind durch Hamsterkäufe weggekauft worden. Und die Menschen, die jetzt drei, vier, fünf Kinder zu Hause haben, die hatten immer das Nachsehen.

DOMRADIO.DE: Wir hatten aber gar keine Alternative zum Lockdown, sagen jetzt viele Verantwortliche. Sonst hätte es noch mehr Infektionen, sonst hätte es noch mehr Todesfälle gegeben. Lassen Sie das nicht gelten?

Siggelkow: Also für die Kinder lasse ich das nicht gelten. Wenn ich die Statistik verfolgt habe, sind glaube ich fünf Kinder tatsächlich an Corona gestorben im Jahr 2020. Dagegen gibt es eine Polizeistatistik, dass 153 Kindern an häuslicher Gewalt gestorben sind. Und ich glaube noch mal genauso viele sind ganz kurz davor noch gerettet worden. Der sexuelle Missbrauch und die häusliche Gewalt haben sich bestimmt verdrei- bis verfünffacht. In anderen Ländern gab es nur einen Lockdown für die Schüler. Das heißt, die Schulen haben nicht zugemacht.

Natürlich stehen wir jetzt auch wieder vor so einer Welle und dieser Frage. Ich frage mich, warum kann man nicht einfach Wechselunterricht machen, dass die Hälfte der Klasse zur Schule geht und am nächsten Tag geht die andere Hälfte zur Schule, dann kann man das Problem auch eindämmen. Ich glaube, dass man einfach nicht genug nachdenkt. Das ganze Bildungsministerium hat sich meiner Meinung nach überhaupt keine Gedanken gemacht, wie Schule aussehen kann im Krisenfall. Ich hatte im letzten Jahr den Vorschlag gemacht, dass man Lehramtsstudenten ins Schulsystem einfügt, um die Lehrer und auch die Eltern zu Hause zu unterstützen – per Telefon oder Zoom oder wie auch immer. Ein einziges Bundesland hat es aufgegriffen, das war Mecklenburg-Vorpommern, alle anderen haben geschwiegen.

DOMRADIO.DE: Sie von der Arche haben mit ihrem ganzen Team natürlich versucht gegenzusteuern. Inwieweit ist Ihnen das gelungen? Was konnten Sie ein bisschen abfedern, was auffangen – und wie?

Siggelkow: Nach 25 Jahren war es für mich schon schwierig, meine Einrichtung zu schließen, die eigentlich ein Zuhause für unsere Kinder ist. Wir haben dann über Nacht eine virtuelle Arche geschaffen, haben dann Homeschooling gemacht. Wir haben erst mal vielen Kindern ein Smartphone besorgt, damit sie überhaupt digitalisiert sind. Wir haben innerhalb von einem Jahr 1.000 Kinder mit Laptops und Tablets versorgt. Wir haben ein virtuelles Programm gemacht, in dem wir auch jeden Tag einen Livestream, also ein lustiges Programm, angeboten haben, dass die Kinder über YouTube anschauen konnten und mit ihren Eltern an Wettkämpfen teilnehmen, damit wir sie bei Laune halten, um auch die häusliche Gewalt einzudämmen.

Und wir waren jeden Tag unterwegs und haben unsere knapp 8.000 Kinder mit Essen versorgt. Wir haben also Lebensmittel nach Hause gebracht, damit die Eltern auch Essen kochen können für ihre Kinder und niemand verhungert oder niemand auf der Strecke bleibt. Verhungern wird ja in Deutschland niemand, sagt man immer so schön, aber nun gibt es leider auch ganz andere Fälle.

DOMRADIO.DE: Während wir reden, breitet sich ja die hochansteckende Omikron-Variante weiter aus. Jetzt geht es wieder darum, ob Schulen, ob Jugendeinrichtungen aufbleiben dürfen. Was fordern Sie da ganz konkret und ganz aktuell von der neuen Bundesregierung?

Siggelkow: Also die Bundesregierung, zumindest das Triell hat gesagt: Wir werden die Schulen nicht schließen. Natürlich muss man die Pandemie eindämmen, das ist gar keine Frage. Und ich fordere von der Politik, dass sie sich Gedanken darüber macht, wie man die Kinder trotzdem unterrichten kann – und nicht wieder die Kinder abhängt, die schon viel zu weit abgehängt sind. Das heißt, ich bin für Wechselunterricht. Entweder: Eine Woche lang geht die Hälfte der Klasse zur Schule und die nächste Woche die andere Hälfte, oder man macht es tageweise, damit nur die Hälfte der Kinder da sind.

Das hilft dann auch, die Kinder mit Unterrichtsmaterial zu versorgen, die dann nur jeden zweiten Tag oder jede zweite Woche in der Schule sind. Aber da ist auch wirklich das Schweigen im Wald. Da macht jeder, was er will. Je nachdem, wie gut die Schule ausgestattet ist, funktioniert das. Und die meisten Schulen, gerade im Brennpunkt, wo wir arbeiten, haben keinen Förderverein, der die Schulen unterstützen kann. Da ist der Lehrer die eierlegende Wollmilchsau und muss es einfach schaffen, allen gerecht zu werden, den Lehrstoff zu vermitteln, den Eltern, den Direktoren, den Schülern. Das funktioniert ganz häufig gar nicht.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Quelle:
DR