Die unglaubliche Geschichte von Shaul Ladany

Dem Tod zweimal entkommen

Shaul Ladany war acht Jahre alt, als er ins KZ Bergen-Belsen verschleppt wurde. Mit 36 nahm er als einziger Holocaust-Überlebender in seinem Team an den Olympischen Spielen in München teil und entging dem Terroranschlag auf die israelischen Sportler.

Autor/in:
Karen Miether
 (DR)

Shaul Ladany schaltet in seinem Haus am Rande der Negev-Wüste in Israel in diesen Tagen häufig den Fernseher ein. Er guckt Olympia - wie viele. Doch 40 Jahre nach dem Massaker an der israelischen Mannschaft bei den Spielen in München sieht der 76-Jährige mit besonderem Blick nach London. Er gehört zu den wenigen im Team seines Landes, die den Anschlag der palästinensischen Terrorgruppe "Schwarzer September" überlebten. Nicht zum ersten Mal war damals sein Leben in Deutschland bedroht. Er war erst acht, als er die Hölle des Konzentrationslagers Bergen-Belsen durchlitt.



Ein halbes Jahr lang war Ladany 1944 in dem Lager interniert, in dem nahe der niedersächsischen Stadt Celle mehr als 52.000 KZ-Häftlinge umkamen. Im September 1972 in München erlebte der Leichtathlet innerhalb weniger Tage erst den Wettbewerb im 50-Kilometer-Gehen, bei dem er als 19. ins Ziel lief, dann die Ermordung von elf seiner Teamkollegen. "Insgesamt war das eine vergleichweise kurze Zeit", sagt der Professor für Wirtschaftsingenieurwesen im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), aber sie habe ihn geprägt: "Das ist ein großer Teil meines Lebens."



Unauslöschliche Erinnerungen

Ladany hat nicht vergessen: nicht die Zeit, als er ein kleiner Junge war und seine jüdische Familie verfolgt wurde. Sie flohen von Jugoslawien nach Ungarn. Dann verschleppten die Deutschen ihn mit seinen Eltern und Schwestern nach Bergen-Belsen. "Ich erinnere jeden Tag dieser sechs Monate - den Hunger, den Regen, die Kälte, die endlosen Zählappelle, die Stacheldrahtzäune neben dem Elektrozaun, die Wachtürme, die SS-Offiziere, die uns immer anschrien", schreibt er in seinen Erinnerungen, die 2008 auf Englisch erschienen sind.



Mehr als 50 seiner Angehörigen überlebten den NS-Terror nicht. Dass er selbst immer wieder dem Tod entkam, verdanke er einer ganzen Serie von glücklichen Momenten, sagt Ladany. "Viele Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe, waren richtig. Aber da war auch vieles, was nicht in meiner Kontrolle lag."



Dazu gehörte, dass er im olympischen Dorf in München 1972 im zweiten Block des israelischen Quartiers in der Connolly Straße 31 untergebracht war - gemeinsam mit den Sportschützen. Er vermutet, dass die palästinensische Gruppe diesen Block bewusst ausließ, als sie das Quartier stürmte. Die Terroristen mussten damit rechnen, dass die Schützen ihre Waffen bei sich haben. Shaul Ladany überstand das Attentat. "Anders als bei anderen blieb es für mich auch ohne psychische Folgen", sagt er: "Vielleicht lag das an meiner Vorgeschichte."



Erfolge im Beruf und im Sport

Der emeritierte Professor blickt auf Erfolge im Beruf und im Sport zurück. Bis heute hält er den Weltrekord im Gehen über 50 Meilen:

Sieben Stunden, 23 Minuten, 50 Sekunden. Er stellte ihn 1972 auf, einige Monate bevor er bei Olympia antrat. Noch immer treibt der dreifache Großvater Sport. "Nach einer Operation am Bein trainiere ich wieder." Im Frühjahr will er an seinem Geburtstag 77 Kilometer walken, einen für jedes Lebensjahr.



Ausdauer erfordert auch seine zweite Leidenschaft, meint Ladany: "Ich bin ein Sammler. Dazu braucht man einen besonderen Charakter. Es bedeutet, Dinge aufzuheben und an ihnen dranzubleiben." Über München 1972 und über das Lager Bergen-Belsen hat er besonders viele Zeitungsartikel und andere Zeugnisse zusammengetragen. Er sieht darin auch ein Vermächtnis: "Ich will die Erinnerung nicht nur in meinem Kopf bewahren, sondern für die Allgemeinheit, damit wir daraus lernen." Die Sammlung will er später seiner Tochter Danit übergeben.



Das Gedenken an die ermordeten Mitglieder seines Teams ist Shaul Ladany wichtig. Es erzürnt ihn, dass dafür in London zumindest in der großen Arena kein Platz sein soll. "Die Eröffnungs- oder die Schlusszeremonie wären dafür richtig gewesen", ist er überzeugt:

"Alle sollten an die Getöteten erinnern. Sie sind nicht nur israelische Opfer, sie sind Opfer der Olympischen Spiele."