Norbert Blüm hat es kürzlich auf den Punkt gebracht. "Ich sehe durchs Fenster des Krankenzimmers auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Menschen scheinbar voraussetzungslos gehen", schrieb der seit einiger Zeit von den Schulter an gelähmte CDU-Politiker in der "Zeit". "Die normalen Verhältnisse bieten ein Potenzial an Lust, das wir erst zu schätzen wissen, wenn wir es verloren haben."
Das Glück der Normalität - in der Corona-Krise ist es vielen Menschen wieder bewusst geworden. Wir trauern einem Alltag nach, der uns noch vor gar nicht langer Zeit bisweilen zäh und langweilig vorkommen mochte.
Das soziale Miteinander fehlt
Es ist erst ein paar Tage her, da schien mir unser Bonner Großraumbüro als in mancher Hinsicht ungemütlicher Ort. Schlechte Luft, nerviges Telefonklingeln - und immer unter Leuten.... anstrengend! Heute, im einsamen Homeoffice, kann ich zwar in aller Ruhe dem Kirschbaum im Garten beim Blühen zuschauen und unserem Hund gelegentlich ein Leckerli geben. Doch mir fehlen die intensive Arbeitsatmosphäre, die kurzen Absprachen über den Schreibtisch hinweg, die Frotzeleien und die gemeinsamen Mittagessen.
Manchmal, ganz selten, darf ich dann doch noch in der Bonner Redaktion arbeiten: allein, aber mit zwei großen Bildschirmen und einer Telefonanlage, in der die Telefonnummern der wichtigsten Ansprechpartner schon eingespeichert sind. Auf dem Weg dorthin komme ich in meinem Heimatort Bad Honnef an einem Haus vorbei, an dem eine große, selbst gestaltete Fahne aus dem Fenster hängt. "Et hätt noch immer jot jejange" hat jemand in bunten, aus Clownsstoffen geschnittenen Buchstaben eine rheinische Lebensweisheit auf die weiße Fahne genäht. Es ist noch immer gutgegangen...
Neue Erfahrungen
Aber mein Weg führt auch an einem alten Bilderstock vorbei. Ein "Pesthäuschen", das an das letzte Pestjahr in der Region im Jahr 1666 erinnert und die heilige Anna um Rettung und Fürbitte bei Gott anruft. Es ist eben doch nicht immer gut gegangen.
Das macht mir auch das Telefon-Interview mit dem Regensburger Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder deutlich: Er fragt sich, warum uns die Corona-Krise so kalt erwischt und das gesamte Leben zum Stillstand bringt. Durch Rauchen, hat er ausgerechnet, sterben 350 Menschen in Deutschland - und zwar täglich. Das regt aber kaum jemanden auf, auch nicht die Zahl von mehr als 3.000 Verkehrstoten jährlich.
So eine Pandemie aber, so Hirschfelder weiter, stellt unser gern gepflegtes Selbstbild vom autarken, sich selbst optimierenden modernen Menschen in Frage. Krieg und Seuchen - das lag für die allermeisten Deutschen jenseits aller Erfahrungen.
Ungewohnter Zustand
Noch ist die Situation erträglich. Meine Frau und ich skypen immer wieder mit unserer Tochter Hannah, die gerade nördlich des Polarkreises im norwegischen Tromsö studiert und wegen Corona nicht nach Hause kommen kann - aber auch nicht will. Auch dort hat die Uni dicht gemacht; es gibt Online-Vorlesungen und Internetkurse. Die kleine Gruppe der ausländischen Studierenden genießt die Schneelandschaft und das distanzierte Zusammensein in der Natur.
Auch bei uns in der Nachbarschaft bleibt die Stimmung einigermaßen gelassen angesichts des gigantischen Experiments, das die Corona-Pandemie ausgelöst hat. Kaum ein Flugzeug, das mit seinen weißen Kondensstreifen den blauen Himmel über dem Siebengebirge zerteilt. Abends absolute Stille im Rheintal, wo sonst Züge und Autos für ein ständiges Grundrauschen sorgen.
Vergangenes Wochenende wollten wir extra ein wenig Lärm machen in der Nachbarschaft. Wie Italiener und Spanier waren wir aufgerufen, der Corona-Krise mit fröhlicher Musik die Stirn zu bieten. Ich habe - nach fünf Jahren erstmals - mein Saxophon wieder aus dem Keller geholt; der Nachbar von gegenüber öffnete die Balkontür und spielte Klavier. Doch das "Freude schöner Götterfunken" versandete kläglich. Da fehlt uns Deutschen wohl die Selbstverständlichkeit, spontan zu singen und zu musizieren. Die Welt wirkt wie in Watte gepackt. Es macht kirre, nicht zu wissen, wie lange dieser Ausnahmezustand dauern wird.