DOMRADIO.DE: Wo genau brennt es denn?
Prälat Peter Neher (Präsident des Deutschen Caritasverbandes): Die meisten Menschen, die auf der Flucht sind, kommen nach wie vor aus den Ländern Afghanistan, Syrien - die Rohingya-Flüchtlinge aus Myanmar in Bangladesch, Südsudan, Venezuela. Das ist eigentlich das, wo es nach wie vor brennt. Dazu kommt wieder ein erneuter Ebola-Ausbruch im Kongo und das Ganze dann häufig nochmal verschärft durch die Corona-Situation.
DOMRADIO.DE: Wir müssen gar nicht so weit weg gehen, um eines Ihrer Einsatzgebiete zu finden. Sie sind als Caritas auch in Griechenland in den Flüchtlingslagern tätig. Wie ist die Situation da vor Ort?
Neher: Die ist nach wie vor hochdramatisch. Wir haben allein im Lager Moria, das für 3.000 Menschen konzipiert ist, fünfmal so viele wie eigentlich vorgesehen. Es sind über 30.000 Flüchtlinge insgesamt auf den ägäischen Inseln. Davon etwa ein Drittel Kinder und davon dann nochmal eine große Zahl von unbegleiteten Kindern und Jugendlichen. Das hat ja auch in Corona-Zeiten nicht ausgesetzt. Diese Dramatik macht keinen Urlaub.
DOMRADIO.DE: Das heißt ja auch Corona spielt da eine Rolle. Wie hat sich das in den letzten Monaten verändert?
Neher: Es hat sich insofern verändert, dass wir weltweit einen riesigen Hilfebedarf haben. Wir haben seit März etwa zusätzlich 600.000 Menschen versucht zu versorgen, zu begleiten, zu betreuen - weltweit. Und das hat sich dann verschärft, weil auch viele Hilfsmaßnahmen vor Ort ja auch unter den Abstandsregeln, Hygienevorschriften erfolgen, sodass es einfach schwierig ist, auch wirklich an die hilfebedürftigen Menschen ran zu kommen, sie zu unterstützen. Und gleichzeitig, dass die Helfer sich auch selber schützen müssen, um nicht entsprechend infiziert zu werden.
DOMRADIO.DE: Wo werden Sie alleine gelassen bei dieser ganzen Ausgangslage auf der Welt? Oder wo haben Sie vielleicht noch Unterstützungsbedarf?
Neher: Ich denke, es gilt für alle diese Länder. Wichtig für uns ist ja, dass unsere Kolleginnen und Kollegen insbesondere der Caritas vor Ort präsent sind. Wir sind sehr dankbar für alle finanzielle Unterstützung. Wir haben allein im ersten Halbjahr etwa ein Drittel höhere Spendeneinnahmen, als wir sie ursprünglich geplant haben. Das ermöglicht uns natürlich entsprechende Hilfsmaßnahmen und die sind auch dringend notwendig angesichts des enormen Hilfebedarfes weltweit.
DOMRADIO.DE: Uns macht vor allem Coruna zu schaffen. Wie ist die Lage bei der Ebola-Epidemie in Afrika?
Neher: Die ist ja speziell im Kongo, wo innerhalb kürzester Zeit ein erneuter Ausbruch stattfindet. Wir hatten den Letzten, den bisher Dramatischsten. Der hat erst vor wenigen Monaten geendet - mit mehr als 3.000 Toten. Der vorausgehende elfte Ausbruch, der war auch erst kurz zuvor. Also es beschleunigt sich und wir sind dort als Caritas insbesondere in der Aufklärungsarbeit, im Hygiene-Training, das wir in verschiedenen Landessprachen dann auch umsetzen, gerade auch in den Gesundheitsstationen, enorm gefordert. Und das ist kein neuer Virus. Aber verschärft. Corona ist ja auch präsent. Das Ganze ist eine hochdramatische Gemengelage, wo unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort massiv gefordert sind und wir versuchen sie mit unseren Mitteln so gut es geht zu unterstützen.
DOMRADIO.DE: Eine Doppelt- und Dreifachbelastung. Welche Schwierigkeiten hat die katholische Kirche denn vor Ort?
Neher: Die Situation der Kirche ist natürlich vergleichbar. Die pastorale Situation, zu der ich jetzt keinen unmittelbaren Überblick habe, die ist ähnlich herausgefordert. Das sind ja auch alles relativ kleine Gemeinden, Gemeinschaften, die da vor Ort sind. Und natürlich insbesondere dort betroffen sind, wo es Menschen sind, die sich nicht an die Hygienevorschriften oder Hygieneregeln halten, die sie nicht entsprechend umsetzen können, weil sie in prekären Situationen leben. Und das gilt natürlich für die ganze Kirche, die insgesamt davon betroffen ist.
DOMRADIO.DE: Eine Gruppe, die oft unter den Tisch fällt: Binnenvertriebene. Was ist mit denen? Wie können wir da 2020 darüber sprechen?
Neher: Wir haben weltweit etwa 80 Millionen Menschen, die überhaupt auf der Flucht sind. Und davon 45,7 Millionen, die in den eigenen Ländern betroffen sind. Herausragendes Beispiel ist da Syrien, wo der größte Teil der Bewohner Syriens selber im eigenen Land nicht im angestammten Haus und in der angestammten Region leben können. Das macht natürlich noch einmal deutlich, dass wir immer von weltweiten Fluchtbewegungen reden. Das stimmt ja auch. Aber der größte Teil ist nach wie vor im eigenen Land, in der eigenen Region und bedarf dort der Unterstützung, weil dort Nahrungsmittel fehlen, Arbeit fehlt und entsprechende Räumlichkeiten zum Leben fehlen. Was ja in den Ländern, wenn ich da mal Syrien nehme, hochdramatisch ist, weil ja da massive Kriegszerstörungen landesweit sind und deswegen die Situation sich dort mal verschärft darstellt.
Das Interview führte Katharina Geiger.