Kulturtheoretiker fordert radikales Umdenken beim Umweltschutz

"Diese Wahrheit will keiner aussprechen"

Es ist fünf vor zwölf für den Planeten, das ist uns gerade so bewusst wie nie. Trotzdem tun sich Politik und Gesellschaft schwer, Gewohntes abzulegen. Der Kölner Professor Kersten Reich wünscht sich eine "nachhaltige Aufklärungsepoche".

Umweltschutz / © myboys.me (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Als Christen sprechen wir von der "Bewahrung der Schöpfung". In der Politik geht es darum, wie wir unsere Umwelt schonen bzw. das Klima retten, bevor es zu spät ist. Keine neue Aufgabe, oder?

Prof. Dr. Kersten Reich (Kulturtheoretiker und Pädagoge, Universität Köln): Nein, das ist keine neue Aufgabe. Im Grunde wissen wir seit 1972 mit dem "Club of Rome" wo es hingeht, der hat die erste große Analyse erstellt. Das Bittere ist, dass alle Prognosen, die sie damals gestellt haben, sind eingetreten und teilweise noch übertroffen worden. In negativer Hinsicht.

DOMRADIO.DE: Weshalb braucht es dann ein neues Buch im Jahr 2021? Ihr "Nachhaltiges Manifest"?

Reich: Es basiert im Grunde auf zwei größeren Studien, die ich in diesem Jahr im Westend Verlag veröffentlicht habe. Darin lege ich umfassend dar, was der Forschungsstand zur Nachhaltigkeit ist und zwar nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch das Verhalten betreffend.

Also, warum fällt es Menschen so schwer, ihr Verhalten in Richtung mehr Nachhaltigkeit zu ändern? Das ist mein Hauptthema, weil ich aus der Lernforschung komme. Ich glaube dieses Manifest braucht es als auch politische Erklärung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, weil wir erkennen, der Planet ist in Gefahr und wir müssen was tun. Und ich muss auch ehrlich sagen: Die Politik redet zwar mittlerweile viel drüber, auch die Medien, aber die Handlungen stehen in keinem Verhältnis zu dem, was vor uns steht.

DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch heißt es: "Nachhaltige aller Länder vereinigt euch". Es kommen die Ausgangslage, die Ursachen und die Konsequenzen vor. Wie radikal und konsequent gehen Sie dabei vor bzw. fordern Sie es von den Leserinnen und Lesern?

Reich: Gar nicht radikal in dem Sinne, sondern das sind mittlerweile Selbstverständlichkeiten, wenn man sich das ansieht, was die Forschungslage hergibt. Die Naturwissenschaftler beispielsweise sind ja sehr vorsichtig in ihren Forderungen. Sie stellen dar. So ist der Stand der Dinge. Jetzt muss was getan werden, aber sie sagen nicht wie.

Ich komme ja aus den Lern- und Verhaltenswissenschaften. Wir können schon genauer sagen: Wenn das die Fakten sind, dann müssen wir auch handeln. Und dann sollten wir auch sagen, wie es geschieht. Und eins sehen wir jetzt im Bundestagswahlkampf sehr deutlich: Keiner traut sich der Menschheit zu sagen "Ihr müsst auch mehr verzichten".

Wenn man das, was Sie jetzt eben Schöpfung genannt haben, erhalten will, dann muss man Verzicht üben - und ohne Verzicht wird es auch nicht gehen. Diese Wahrheit will aber keiner aussprechen, um keine Stimmen der Wählenden zu verlieren.

Wir müssen jetzt erstmal eine eigene nachhaltige Haltung entwickeln und wie wir das tun können. Das ist das Eingangskapitel im "Nachhaltigen Manifest".

DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch alarmieren Sie aber ja nicht nur ganz allgemein, sondern machen konkrete Vorschläge. Wie sollten wir den Planeten retten und das auch noch so, dass der Mensch es hinkriegt?

Reich: Es gibt eigentlich zwei große Kreise, die wir da lösen müssen. Erst einmal individuell. Jede, jeder von uns kann etwas tun. Also jede, jeder von uns kann sich den eher Nachhaltigen anschließen. Das beginnt ja mit ganz einfachen Dingen, dass man sich informiert, dass man seine Haltung ändert zur Nachhaltigkeit, dass man Anreize sucht, wie man selbst wirksam nachhaltiger leben kann. Das mag mit einfachen Dingen wie der Mülltrennung beginnen, aber dann auch mit einer bewussteren Ernährung, mit einem bewussterem, geringerem fossilen Fußabdruck. Also weniger die Verkehrsmittel nutzen, die sehr viel Treibhausgase ausstoßen. Auch eine Ernährung, die weniger Treibhausgase verursacht.

Denn eins ist ganz klar: Die Masse macht's. Schon der kleine Verzicht jedes Einzelnen ist hilfreich. Und wenn wir das dann in der Masse zusammenrechnen, dann entsteht etwas, was günstig ist und das müssen wir gestalten. Erst mal auf der individuellen Ebene, dann aber auch gesellschaftlich. Also ich glaube, unsere Gesellschaft muss einfach eine nachhaltige Aufklärungsepoche erleben, in der wir alle gemeinsam versuchen, unser Allgemeinwohl zu retten gegenüber individuellen Interessen, die die Nachhaltigkeit immer wieder zerstören. Das ist ja unser Hauptproblem in der Gegenwart.

DOMRADIO.DE: Jeder einzelne Verzicht hilft schon, sagen sie. Eines der häufig genannten Argumente auf der anderen Seite ist, dass wir als einzelne Personen gar nichts anrichten könnten. Die großen Konzerne sollten erst einmal liefern. Und wer hat sich das noch nicht gefragt: Bringt das bisschen überhaupt was, wenn noch die Firmen und Konzerne weitermachen und nicht gestoppt werden? Ist das falsch?

Reich: Ja, ich glaube schon, dass das ein bisschen kurzsichtig gedacht ist. Wir, die Einzelnen, sind ja Konsumierenden und wir nutzen ja all die Waren, die dann in der großen Industrie und in großem Maße hergestellt werden. Und wir können durch unsere Nutzung schon mitbestimmen, in welche Richtung das geht. Geht es in Richtung mehr Nachhaltigkeit, Artenschutz oder Wassererhaltung? Oder geht es in eine weitere Verschwendung, Erhöhung des negativen Fußabdrucks? Es fällt schon sehr auf, dass die Reicheren - und wir gehören ja als Gesellschaft insgesamt zu den Reicheren - deutlich negativer auf den Fußabdruck der Welt einwirken als ärmere Menschen oder ärmere Länder.

Also jeder bei uns kann natürlich schon durch sein Konsumverhalten sehr, sehr viel tun. Und gleichwohl, da haben Sie auch wieder recht, die Lobbys und Konzerne, die nur auf Gewinnmaximierung aus sind, die müssen auch umdenken lernen zum Allgemeinwohl der Menschheit hin.

Das Interview führte Katharina Geiger.


Quelle:
DR