DOMRADIO.DE: Diese Woche haben Sie sehr anschaulich bei Facebook den Mechanismus von Populismus am Beispiel eines Vergleichs von Matthias Matussek aufgedeckt, bei dem er die Rente einer Putzfrau mit Bezügen von Geflüchteten gegenüber stellte. Was zeichnet den Mechanismus aus, den Populisten bei sowas nutzen?
Erik Flügge (Blogger, Autor und Berater): Das ist ein ganz klassischer populistischer Vergleich. Sie nehmen also die niedrige Rente einer, in dem Fall glaube ich, tatsächlich auch nicht repräsentativen Person. Matussek nimmt also eine besonders niedrige Rente einer Friseurin und summiert dann alle Staatsleistungen für eine zehnköpfige syrische Flüchtlinge und sagt: Guck mal, die bekommen ein paar tausend – sagt aber nicht, dass es um zehn Leute geht – und die Rentnerin bekommt ein paar hundert Euro. Was er dabei macht ist: Er bietet gar keine Lösung an, sondern setzt nur auf die Wut, will die Leute wütend machen. Dann teilen die das, weil sie kein anderes Ventil finden und damit erntet er als Populist Reichweite für sich – auf Kosten der Friseurin und der Syrer.
DOMRADIO.DE: Wo hört denn journalistisch zumutbare Zuspitzung auf und wo fängt Manipulation an? Gibt es da eine scharfe Trennlinie?
Flügge: Nein, es gibt keine scharfe Trennlinie, an der man das sagen kann. Grundsätzlich können Sie davon ausgehen, dass alles, was in Social Media erfolgreich ist, immer emotional ist. Beispiel: Die Süddeutsche Zeitung hat heute eine sehr intelligente Kommunikation. Die sagt nämlich einfach in einem Artikel: Die klugen Leute sind diejenigen, die am Brückentag arbeiten. Was machen sie damit: Sie setzen auf die Emotionen von allen, die heute am Brückentag arbeiten und sich im Büro, das dann häufig leer ist, die Frage stellen, warum sie denn der eine Depp sind, der heute arbeitet. Das kontrastieren sie mit so einer positiven Erzählung von "Ihr seid eigentlich die Klugen". Das motiviert die Leute, das zu teilen. Sie sehen, das ist auch darauf ausgerichtet, Reichweite zu machen – aber es wird kein Mensch verletzt. Es wird niemand verunglimpft und es wird nicht mit Falschinformationen gearbeitet. Genau daran halten sich Populisten nicht. Sie arbeiten häufig mit Falschinformationen oder mit verkürzten Informationen. Sie wollen ganz bewusst nicht dafür sorgen, dass Probleme gelöst werden, sondern dass Leute sich empören – und zwar möglichst gegenüber Minderheiten in der Bevölkerung.
DOMRADIO.DE: Nun haben Sie gerade ein positives oder zumindest nicht verwerfliches Beispiel aufgezeigt. Aber leider begegnet man im Netz ja auch immer wieder und immer häufiger Gegenteiligem. Wie kann der Einzelne denn reagieren, wenn er im Social Web unterwegs ist und solchem Populismus begegnet?
Flügge: Das Wichtigste ist, es erst einmal zu verstehen. Ich habe zum Beispiel den Ball aufgegriffen. Ich habe ein Posting von Herrn Matussek gesehen, das hat mich geärgert und ich habe mich entschieden: Ich kläre ausführlich darüber auf, was da passiert. Das ist 42.000 Mal von meiner Facebook-Seite aus im Netz geteilt worden. Das hat wesentlich mehr Menschen erreicht als Herr Matussek mit seinem eigentlichen Posting. Am Ende hat es sogar dafür gesorgt, dass er sich irgendwann entschieden hat – weil ihm wahrscheinlich die Kritik dann auch irgendwann zu peinlich wurde – seine Originalkommunikation zu löschen. Damit ist an einer Stelle im Netz jetzt eine populistische Botschaft weniger unterwegs. Ich glaube, es ist ganz, ganz wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger verstehen, dass man an solchen Stellen widersprechen muss. Denn es gibt ganz viele Leute, die die Kommentare mitlesen. Man darf eben diesen Personen, die mit solchen Zuspitzungen und zum Teil auch Falschinformationen operieren, nicht die Kommentarspalten überlassen, weil sie tatsächlich Leute beeinflussen.
DOMRADIO.DE: Auch an den Rändern der Kirche gibt es ja populistische Strömungen, die zum Beispiel versuchen, mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten Stimmung zu machen. Wie kann die Kirche sich da verhalten?
Flügge: Diesen Mechanismus, mit Überspitzungen und harten Thesen Reichweite zu machen, finden Sie nicht nur an den Rändern der Kirche sondern an ganz vielen unterschiedlichen Stellen. Wir haben ja auch Bischöfe und Kardinäle, die das regelmäßig tun und es damit regelmäßig in die Medien schaffen. Das sind erst einmal normale Mechanismen. Schwierig wird es immer dann, wenn Informationen verzerrt sind, Menschen beleidigt oder verletzt werden oder tatsächlich radikale Zuspitzungen stattfinden. Das Entscheidende ist, nicht auf seinen eigenen Kanälen ständig Gegenkommunikation zu machen, also zu sagen: Ich widerspreche dem anderen. Damit spielen Sie am Ende auch das Spiel des Populisten mit, seine Botschaft weiterzutragen. Sondern man muss immer dort widersprechen, wo die Botschaft eigentlich gesetzt wird – sprich: man muss sich organisieren. Die Grünen haben das mal sehr erfolgreich organisiert. Das hieß "Netz-Feuerwehr" und hat gesagt: Hier ist ein Posting, wo einfach Lügen verbreitet werden oder Menschen verletzt werden. Dann hat man ganz vielen Leuten gesagt: Geht doch dort mal hin und kommentiert mit und widersprecht. Gleiches hat auch mal Jan Böhmermann mit "Reconquista Internet" organisiert. In der Kirche gibt es das meines Wissens leider nicht.
DOMRADIO.DE: Manipulation von Informationen mithilfe von Social Media, das ist ja das eine. Wie groß schätzen Sie die Manipulation durch Likes und Follower ein?
Flügge: Die ist tatsächlich nicht mehr so relevant. Die Fragestellung, wie viele Fans eine Seite hat, ist zwar für die Wahrnehmung einer Seite relevant, also dafür, ob das eine wichtige Seite ist oder nicht. Gekaufte Gefällt-mir-Klicks bringen Ihnen aber gar nichts für die Reichweite, denn Sie wollen ja reale Menschen erreichen. Viel spannender ist, dass Populisten ganz häufig darauf setzen, dass sie mit ganz vielen gefälschten Personenprofilen operieren und sich selber in Kommentaren loben. Die veröffentlichen etwas, wechseln auf ein anderes Profil, das aussieht wie das einer normalen Person, loben sich und eskalieren mit diesem Profil gegen andere. Damit sorgen sie dafür, dass sie eine Hoheit über die Kommentare gewinnen. Das ist der Kampf, der gerade geführt wird: um die Hoheit über die Kommentarspalten. Es gibt auch eine große Anzahl von Leuten, die nicht den eigentlichen Artikel lesen, sondern sich ihre Meinung über das Lesen von Kommentierungen bilden.
DOMRADIO.DE: Soweit die Bestandsaufnahme. Aber wagen wir nun mal einen Ausblick. Was glauben Sie, wie wird sich das Thema "Manipulation und Social Media" in Zukunft entwickeln?
Flügge: Das entwickelt sich ja nicht nur in Social Media rapide fort, sondern in allen Bereichen. Das liegt daran, dass die großen Medien nicht mehr die redaktionelle Hoheit haben. Heute kann jeder selber etwas produzieren. Donald Trump macht das an der Spitze eines ganzen Staates. Aktuell zum Beispiel indem er beständig sagt, dass Joe Biden korrupt sei. Wenn er das ausreichend häufig wiederholt und ausreichend häufig sich Leute darüber empören und es dann aufgeschrieben wird, dann wird sich das irgendwann im Kopf der Leute festsetzen. In diesem Interview gerade habe ich einen Fehler gemacht: Ich habe nämlich gerade auch Joe Biden mit dem Begriff "korrupt" verbunden. Jetzt frisst sich das quasi im Hirn der Leute fest. Sie merken daran, wie schwierig es ist, den Widerspruch zu organisieren. Ich zum Beispiel habe den Fall, dass ich jetzt diese Woche diese große Reichweite bekommen habe, für mich nochmal aufgegriffen und habe darüber nachgedacht: Wie kann man solche Dinge erklären und formulieren, ohne das Spiel der anderen mitzuspielen? Ich habe mich dafür entschieden, auf meiner Facebook-Seite in Zukunft darüber aufzuklären. Das ist für mich eine ständige Herausforderung: Wie kläre ich so auf, dass ich nicht gleichzeitig die Botschaften der anderen setze?
Das Interview führte Moritz Dege.