Außergewöhnliche Situationen erfordern bisweilen ungewöhnliche Maßnahmen. Das muss sich Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin gedacht haben, als er die Botschafter Oren David (Israel) und Callista Gingrich (USA) zu dringenden Gesprächen vorlud. Dabei müssen am Dienstag deutliche Worte gefallen sein. Die israelischen Annexionspläne für Teile der besetzten palästinensischen Gebiete - sie entsprechen so gar nicht den Vorstellungen der "Nummer zwei" des Vatikan.
Kein übliches Vorgehen
Bemerkenswert ist, dass einen Tag später obendrein eine vatikanische Presseerklärung zu den Treffen veröffentlicht wurde. Für gewöhnlich laufen die diplomatischen Aktivitäten des Heiligen Stuhls bei internationalen Konflikten eher im Hintergrund ab. Zu groß wäre die Gefahr, eine der Parteien zu brüskieren. Die Rolle eines neutralen Vermittlers, sie wäre alsbald dahin.
Ganz anders das Vorgehen in diesem Fall: Die am Mittwochabend überraschend verschickte Erklärung verzichtet auf gefällige Diplomaten-Floskeln. Unverhohlen warnt der Vatikan davor, den ohnehin brüchigen Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern weiter aufs Spiel zu setzen. Der Heilige Stuhl sei "besorgt", heißt es. Ein "einseitiges Vorgehen" könne die Lage in Nahost destabilisieren.
Annexionspläne von Israels Ministerpräsident
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat vor, bis zu 30 Prozent des besetzten Westjordanlandes einzugliedern, darunter den Großteil des Jordantals sowie israelische Siedlungen. Erste Schritte könnten in diesen Tagen erfolgen. Zuletzt gab es aber allerhand Unstimmigkeiten und internationale Kritik. Gestützt werden die Annexionspläne durch den Nahost-Plan von US-Präsident Donald Trump. Der basiert zwar auf einer Zwei-Staaten-Lösung. Ein palästinensischer Staat wird jedoch an strikte Bedingungen geknüpft. Die Palästinenser weigern sich, diese zu akzeptieren.
Der Vatikan hat bereits mehrfach signalisiert, dass er wenig von Trumps Initiative hält. Wenige Tage vor ihrer öffentlichen Bekanntgabe im Januar war US-Vizepräsident Mike Pence von Papst Franziskus empfangen worden. Die private Unterredung in der päpstlichen Bibliothek dauerte eine Stunde. Damals wurde zu den Inhalten nichts mitgeteilt. Offenbar hielt man sich zu diesem Zeitpunkt noch an diplomatische Gepflogenheiten.
Vatikan unterstützt Zwei-Staaten-Lösung
Im Mai allerdings mochte man den Missmut angesichts des fortschreitenden Annexionsvorhabens nicht mehr verbergen. Anlass war ein Telefonat des palästinensischen Chefunterhändlers Saeb Erekat mit dem vatikanischen Außenbeauftragten Erzbischof Paul Gallagher. Der Vatikan teilte danach mit, er unterstütze weiterhin eine Zwei-Staaten-Lösung "in den vor 1967 international anerkannten Grenzen". Internationales Recht sowie entsprechende UN-Resolutionen seien einzuhalten. Jedwede Handlung, die den Dialog gefährde, sei zu unterlassen.
Aber der Appell fruchtete nicht. Der Nahost-Konflikt spitzte sich in den folgenden Monaten weiter zu und führte am Dienstag zu Parolins dramatisch anmutender Aktion. Ob die Worte des vatikanischen Top-Diplomaten diesmal dazu beitragen können, die Konfliktparteien zur Räson zu bringen, ist unklar. Fest steht indes: Der Heilige Stuhl hat sein gesamtes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um eine Eskalation zu verhindern.
Aufruf aus der Vergangenheit
Beinahe pathetisch liest sich das Kommunique vom Mittwoch. Man möge doch bitte "alles Mögliche" unternehmen, um den Weg zu direkten Verhandlungen wieder frei zu machen. Es gebe ein Existenzrecht für beide Staaten, Israel und Palästina. Das Schreiben schließt mit einem Papst-Zitat aus dem Jahr 2014.
Damals sagte Franziskus bei einer Ansprache in den vatikanischen Gärten vor dem damaligen israelischen Präsidenten Schimon Peres und Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas: Sie mögen den Mut haben, "Ja zu sagen zur Begegnung und Nein zur Auseinandersetzung; Ja zum Dialog und Nein zur Gewalt; Ja zur Verhandlung und Nein zu Feindseligkeiten; Ja zur Einhaltung der Abmachungen und Nein zu Provokationen; Ja zur Aufrichtigkeit und Nein zur Doppelzüngigkeit". Dass der Vatikan nun erneut auf diese Worte zurückgreift, zeigt offen, wie bedrohlich die Situation tatsächlich sein muss.