DOMRADIO.DE: Ganz von vorne. Sehbehinderung, wie definiert man das eigentlich?
Renardo Schlegelmilch: Alles, was mit Brille nicht ausgeglichen werden kann. Wer weniger als 30 Prozent sieht ist sehbehindert, weniger als 5 Prozent hochgradig sehbehindert, weniger als 2 Prozent ist blind. Rechtlich gesehen.
DOMRADIO.DE: Kann man sich ja relativ schwer vorstellen. Was heißt das? 20 Prozent so hell? Ein Fünftel so scharf?
Renardo Schlegelmilch: Ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Aber gute Grundregel: Entfernung. Ich sehe 20 Prozent knapp, heißt, wenn du einen Text auf einen Meter Entfernung lesen kannst, sehe ich den auf 20 cm erst.
DOMRADIO.DE: Was heißt das für dich? Wie kommst du damit im Alltag klar?
Renardo Schlegelmilch: Erstaunlich gut. Das ist Übungssache. Früher, zu Jugendzeiten war ich mehr auf Hilfe angewiesen als jetzt. Die Technik macht auch sehr viel einfacher. In jedem Computer und Smartphone hast du eine Lupen- und auch eine Vorlesefunktion, wie aber auch viele Apps, die helfen. Wenn ich zum Beispiel vor zehn Jahren Zug fahren wollte, musste ich im Bahnhof fragen wann wo welcher Zug abfährt. Heute kann ich mir erst mal mit Handy die Anzeigen abfotografieren und vergrößern, und dann gibt es ja auch noch die Bahn-App zB, mit der ich inzwischen nicht nur Gleis und Waggon angezeigt bekomme, sondern sogar mich zum genauen Sitzplatz lotsen lassen kann.
DOMRADIO.DE: Aber trotzdem stößt man da ja sicher noch an Grenzen?
Renardo Schlegelmilch: Ja. Aber ich habe gelernt, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt. Es ist vielleicht etwas aufwändiger, oder dauert etwas länger, aber dann plant man mehr Zeit ein. Im Flughafen zum Beispiel. Es gibt einen Mobilitätsservice, den man beantragen kann, der einen vom Eingang bis zum Sitzplatz begleitet. Alles sehr aufwändig, für dich, wie auch für die Angestellten. Irgendwann habe ich verstanden, dass man einfach den Schildern folgen muss. Klingt simpel, aber wenn du erst einen Meter vorher siehst, dass da überhaupt ein Schild ist, dann musst du das auch erst mal verstehen. – Und so plant man da halt einfach etwas mehr Zeit ein und kommt eine Stunde früher. Und ganz wichtig: Entspannt ran gehen, keine Panik machen. Wenn ich früher nicht jeden Schritt einer Reise durchgeplant hatte, konnte ich nicht schlafen. Aber verloren geht man ja nie wirklich, es findet sich immer eine Lösung. Da braucht es dann auch ein wenig Gottvertrauen.
DOMRADIO.DE: Gottvertrauen ist auch ein gutes Stichwort. Wie geht es dir denn in der Kirche als Mensch mit Sehbehinderung?
Renardo Schlegelmilch: Interessanterweise ist das einer der Orte, an denen ich noch an Grenzen stoße. Erst mal das Gotteslob. Das Liederbuch ist relativ klein gedruckt. Da versuche ich immer das im Großdruck zu erwischen. Das eigentliche Problem ist aber die Liedanzeige. Die kann ich nicht sehen. Da muss man dann einfach immer den Banknachbarn fragen, auf Dauer will man die Leute damit aber auch nicht belasten, deshalb gehe ich tatsächlich eher selten alleine zur Messe.
DOMRADIO.DE: Wir hören dich bei uns im Programm. Du bist relativ viel als Reporter unterwegs, auch im Ausland. Wie kommst du da klar?
Renardo Schlegelmilch: Ich muss sagen, dass Deutschland tatsächlich zu den besten Ländern für sehbehinderte und blinde Menschen gehört. Einerseits sind wir relativ barrierefrei in den großen Städten, aber dann, und das ist auch wichtig, gibt es ein gutes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln. Als Sehbehinderter oder Blinder kann man ja natürlich kein Auto fahren. In Deutschland komme ich trotzdem quasi überall hin. In anderen Ländern sieht das anders aus. Amerika hat zum Beispiel nicht nur schlechten Nahverkehr, sondern auch Bordsteinkanten, die nicht gleichmäßig hoch und genormt sind. Klingt simpel, aber da braucht man wieder mehr Konzentration und Vorsicht, um sich nicht das Bein zu brechen. Geht alles, ist aber wieder anstrengend. – Aber auch hier, wenn es keine Möglichkeit gibt, dann organisiert man sich eben einen Fahrer oder Reisebegleiter, in arabischen und afrikanischen Ländern ist so etwas ja auch zum Teil recht günstig. Das macht es auf den ersten Blick vielleicht komplizierter, aber meine Einstellung ist: Es macht es nicht unmöglich, und stattdessen zu Hause sitzen und nichts zu erleben, ist für mich auch keine Alternative.
DOMRADIO.DE: Aber hier in Deutschland sieht es gut aus?
Renardo Schlegelmilch: Mit ein paar kleinen Ausnahmen, tatsächlich, ja. Du kennst zum Beispiel diese gelben, geriffelten Linien auf dem Boden bei Bus- und Bahn-Haltestellen. Gelb ist die Farbe, die Sehbehinderte am besten erkennen, hat was mit Kontrast zu tun. Die Linien müssen allerdings auch Sinn machen. Als hier in Köln vor ein paar Jahren der Ebertplatz saniert wurde, hat man auch so ein barrierefreies Leitsystem angelegt, später aber erst rausgefunden, dass die gelben Linien die Menschen nicht zur Bahn, sondern an eine Hauswand gelotst haben. Das ist natürlich etwas kontraproduktiv.
DOMRADIO.DE: Der Tag der Sehbehinderten steht jedes Jahr unter einem eigenen Motto. Dieses Jahr ist es "Sehbehindert im Museum". Was hast du da für Erfahrungen gemacht?
Renardo Schlegelmilch: Früher habe ich immer gedacht, ich habe kein Gespür für Kunst, weil ich Museen immer langweilig fand. Jetzt weiß ich: Das liegt daran, weil ich gar nicht wirklich erkennen kann, was an den Bildern und Skulpturen so besonders, so schön ist. Es gibt viele gute Museen, die mit Audio-Guides arbeiten, die auch Blinden und Sehbehinderten erklären, was man sieht. Ich finde aber, dass das nur so halb angebracht ist. Warum brauche ich als Blinder eine Erklärung für ein Bild von Picasso, wenn ich weder das Bild sehen kann, noch weiß was Farben sind? Die Idee ehrt die Macher, aber ich finde das führt am Punkt vorbei. – Wichtiger, und auch für mich dann interessanter, sind historische oder Naturmuseen. Da geht es ja dann auch eher darum, Wissen zu vermitteln und aufzuklären, als darum, einzelne Pinselstriche zu erkennen. Ich finde da sollte mehr Fokus drauf gelegt werden.
DOMRADIO.DE: Hast du einen Wunsch? Eine Sache, die dir noch fehlt oder die dich irritiert?
Renardo Schlegelmilch: Sensible Busfahrer. Bahnen sagen und zeigen Haltestellen an. Bei Bussen ist das noch nicht Standard. Ich versuche Busfahren immer zu vermeiden, wenn ich aber doch muss, dann muss ich relativ häufig zum Fahrer vor und fragen, wann ich wo aussteigen muss. – 80 Prozent der Zeit bekomme ich da dumme Kommentare, die nicht weiterhelfen. Interessanterweise passiert mir das sonst nirgendwo. Nur im Bus.
Das Interview führte Katharina Geiger. Alle Informationen zum Sehbindertentag.