Wieder sind alle überrascht, und wieder scheint es keinerlei Absprachen in Gremien oder Strukturen gegeben zu haben. Nicht der Nuntius oder der Präfekt der Bischofskongregation überbrachte die Botschaft aus Rom.
Der Papst persönlich verfasste sie in seinem bilderreichen und emotionalen Spanisch und ordnete die sofortige Veröffentlichung an. Um Echtheit und Unmittelbarkeit zu unterstreichen, publizierte der vatikanische Pressesaal den Brief auf dem Briefbogen der wahren vatikanischen Entscheidungszentrale, des Gästehauses Santa Marta. Dort wohnt und regiert Franziskus, der Brief trägt den Stempel seines persönlichen Sekretariats.
Lange dauert es, bis erste Reaktionen eintrudeln. Der Bischofskonferenz-Vorsitzende Georg Bätzing ist in seinem Bistum Limburg auf Visitationsreise unterwegs und äußert sich zunächst nicht. Im Erzbistum München und Freising selbst braucht man über drei Stunden, bis Marx seine erste Reaktion veröffentlicht und ebenfalls von Überraschung spricht.
Papstbrief genau studieren
Und so bleibt für Bischöfe und Kirchenexperten in den Medien Zeit, den Brief des Papstes genau zu studieren und die Konsequenzen für Deutschland und weltweit zu wägen. Etliche Male stimmt der Papst dem Kardinal ausdrücklich zu. "Die gesamte Kirche ist in der Krise wegen des Missbrauchs", schreibt er - und weiter: "Ich stimme Dir zu, dass wir es mit einer Katastrophe zu tun haben: der traurigen Geschichte des sexuellen Missbrauchs und der Weise, wie die Kirche damit bis vor Kurzem umgegangen ist."
Scharf ist auch die Kritik an jenen, die eine "Vogel-Strauß-Politik" betreiben ("nicht alle wollen diese Tatsache annehmen"), die sich in "Soziologismen und Psychologismen" flüchten oder die "Vorsätze zur Änderung des Lebens zu machen, ohne ,das Fleisch auf den Grill zu legen'".
Zugleich macht der Papst klar, dass er sich eine Wende für die Kirche nicht von Missbrauchs-Studien oder vom Enthüllungsjournalismus erhofft: "Es sind nicht die Untersuchungen, die uns retten werden, und auch nicht die Macht der Institutionen. Uns wird nicht das Prestige unserer Kirche retten, die dazu neigt, ihre Sünden zu verheimlichen. Uns wird nicht die Macht des Geldes retten und auch nicht die Macht der Medien." Auch eine "Reformation" sei keine Lösung, erklärt der Papst mit einem Seitenhieb auf Deutschland, sondern nur die Selbsterniedrigung.
Lob für Rücktrittsangebot
Der einzige Weg bestehe darin, die Sünde öffentlich einzugestehen und Gott um "die Gnade der Scham" zu bitten: "Jeder Bischof muss sie (die Sünde) annehmen und sich fragen: Was muss ich angesichts dieser Katastrophe tun?" Das Marxsche Rücktrittsangebot lobt der Papst hier in höchsten Tönen und vergleicht das Handeln des Kardinals sogar mit der Selbsthingabe Jesu am Kreuz: "Das ist der Weg, den auch Du, lieber Bruder annimmst, indem Du Deinen Amtsverzicht anbietest."
Damit macht der Papst Marx für die Bischöfe in Deutschland - und darüber hinaus - zu einer Art Vorbild und lobt ihn dafür, dass er nicht mit "Leichen im Keller" leben will, bloß um das Ansehen der Institution zu retten. Und so ist es konsequent, dass er ihn auffordert, weiter Erzbischof von München und Freising zu bleiben, um sich "verstärkt der Seelsorge zu widmen und für eine geistliche Erneuerung der Kirche einzusetzen".
Mit diesem doppelten Ritterschlag des Papstes, also dem Lob für sein demütiges Verhalten und der ausdrücklichen Bestätigung im Amt des Erzbischofs, hat Marx nun eine neu definierte, einzigartige Stellung unter den deutschen Bischöfen. Zugleich geht der Papst mit diesem Schritt, der ihn eng an Marx bindet, ein erhebliches Risiko ein.
Sollten Gutachter oder Journalisten ihm schwere Verfehlungen in der Vergangenheit nachweisen, dann würde die "moralische Beförderung" durch den Papst rasch wieder verpuffen - und ein denkbarer neuer Skandal könnte dann auch auf den Papst selbst zurückfallen.
Wie sieht das "kein weiter so" aus?
Marx betonte wohl auch deshalb in seiner ersten Reaktion: "Es bleibt bei dem, was ich auch in meiner Erklärung unterstrichen habe: dass ich persönlich Verantwortung tragen muss und auch eine 'institutionelle Verantwortung' habe, gerade angesichts der Betroffenen, deren Perspektive noch stärker einbezogen werden muss. Ich empfinde diese Entscheidung des Papstes als große Herausforderung. Danach einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen, kann nicht der Weg für mich und auch nicht für das Erzbistum sein."
Wie dieses "Kein weiter so" konkret aussehen könnte, weiß heute niemand - vermutlich auch Marx selbst noch nicht. Weitere Überraschungen aus München und Rom sind also nicht ausgeschlossen.