Dorf-Papst Henkel: Politik darf ländlichen Raum nicht vergessen

Vor den Kopf gestoßen

Die Zeitschrift "Landlust" verkauft sich gut. Doch das Leben auf dem Dorf scheint in der Krise. "Dorf-Papst" Henkel warnt deshalb die Politik: Wenn die Menschen auf dem Land sich abgehängt fühlen, drohen Wut und Apathie.

"Die Kirche im Dorf lassen"... / © Felix Kästle (dpa)
"Die Kirche im Dorf lassen"... / © Felix Kästle ( dpa )

Gerhard Henkel hat keine Zeit. "Rettet das Dorf! Was jetzt zu tun ist" heißt das Buch, das der frühere Professor an der Universität Duisburg-Essen im vergangenen Herbst veröffentlicht hat. Seitdem ist der 73 Jahre alte Humangeograph, der in seinem Heimatdorf Fürstenberg bei Paderborn lebt, ständig unterwegs zu Vorträgen, Interviews und Konferenzen.

Das Thema, mit dem er sich seit 45 Jahren wissenschaftlich beschäftigt, hat eine Dringlichkeit bekommen: Die Menschen auf dem Land hätten die gleichen Rechte gegenüber dem Staat wie die Bewohner von Ballungsgebieten, erklärte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz am Sonntag in seiner Antrittsrede im Berliner Willy-Brandt-Haus. Und der Unionsfraktionsvorsitzende im Bundestag, Volker Kauder (CDU), kündigte am Wochenende an, die Union wolle für den Bundestagswahlkampf ein Konzept zur Zukunft des ländlichen Raums erarbeiten: "Wir werden einen Plan vorlegen, wie das Leben außerhalb der großen Städte attraktiv gehalten werden kann."

Wahlforscher: Abgehängte haben zu Wahlsieg Trumps beigetragen

Diese Ankündigungen kommen nicht von ungefähr: Wahlforscher in den USA gehen davon aus, dass es auch die sich abgehängt fühlenden Menschen auf dem Land waren, die zum Wahlsieg von Donald Trump beigetragen haben. Auch in Deutschland könnte laut Henkel eine ähnliche Entwicklung drohen.

Es gebe in vielen ländlichen Räumen, etwa im Osten Deutschlands, einen massiven Vertrauensverlust gegenüber den staatlichen und kirchlichen Zentralen, sagt er. Brandenburg und Thüringen etwa legten derzeit in einer zweiten Welle von Gebietsreformen Kreise und Gemeinden zusammen - und das, obwohl neue Studien zeigten, dass Gebietsreformen keine Einsparungen brächten. Kirchen, Sparkassen und Krankenhäuser machten es ihnen nach.

Wutbürger und Protestwähler auf dem Land

"Das erzeugt Wut und Apathie", hat der vielfach auch als Dorf-Papst bezeichnete Wissenschaftler auf zahlreichen Bürgerversammlungen erfahren. Menschen, die sich in Kommunalpolitik oder Kirchengemeinde engagierten, würden vor den Kopf gestoßen. Landbewohner müssten weite Wege zu Rathäusern, Behörden und Geschäften in Kauf nehmen. Die Menschen fühlten sich abgehängt. "Extremistische Gruppierungen und neue Parteien nutzen dieses Fürsorge-Vakuum." Die Zahl der Wutbürger und Protestwähler nehme zu.

Henkels Forderung lautet deshalb: "Gebt den Dörfern ihre Kraft und damit ihren Stolz zurück. Vertraut den Kompetenzen und dem Engagement der Bewohner." Die "Fernsteuerung und Fremdbestimmung der Dörfer" und die "Dominanz der Zentralen in Wirtschaft, Politik, Medien" müsse aufgebrochen werden. "Wir brauchen dringend einen Bundesbeauftragten für den ländlichen Raum, der die Interessen des Dorfes vertritt. Das wäre ein starkes Signal an die Landbevölkerung."

Was kann helfen?

Dabei ist Henkel nicht naiv: Der ländliche Raum muss sich auch selber kümmern. Er brauche starke wirtschaftliche Strukturen, um attraktiver zu werden. Dabei erbringe er derzeit immer noch 57 Prozent der Wirtschaftsleistung in Deutschland. "Im Emsland oder Sauerland liegt die Arbeitslosenquote deutlich unter dem landes- oder bundesweiten Durchschnitt. Mittelständische Unternehmen sichern dort Arbeitsplätze, zum Teil sind es Weltmarktführer, die hier produzieren."

Chancen sieht Henkel etwa durch die Energiewende: Das Land könne die Energieproduktion wieder mehr in die eigene Hand nehmen, etwa durch Windkraftanlagen, Solarenergie, Biogas und Energiepflanzen. Auch die Digitalisierung biete Chancen - vorausgesetzt, dass leistungsfähige Internetverbindungen da sind.

Zugleich müssen sich die Dörfer und Kleinstädte laut Henkel wieder mehr auf ihre Stärken besinnen. Ortskerne müssten revitalisiert, Läden und kirchliche Gemeinden erhalten werden. "Die Kommunen müssen sich zu Bürgerkommunen entwickeln. Bürger müssen mitmachen, mitreden, mitentscheiden", fordert er. Die Voraussetzungen dafür seien gut. "Es gibt dichte soziale Netze, die sich etwa bei der Kinderbetreuung und der Sorge für Alte und Kranke unterstützen." Die "Kultur des Anpackens und der Eigenverantwortung" sei auf dem Land stärker ausgeprägt.


Quelle:
KNA