KNA: Pater Nikodemus, wie erleben Sie die gegenwärtige Lage im Heiligen Land?
Schnabel: Ich bin traurig und ernüchtert. Es herrscht eine Katerstimmung wie nach einem Fest. Das Jahr 2014, das erst zur Hälfte um ist, hatte hier mit dem Papstbesuch und der darauffolgenden Begegnung von Israels Staatspräsident Schimon Peres und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im Vatikan bewegende Bilder gebracht, die um die Welt gingen. Was US-Außenminister John Kerry vorbereitet hat, hat durch diese Initiativen einen Schub erhalten und eine freudig-feierliche Stimmung erzeugt. Nun sind wir zurückgeworfen in die Zeit der Gazakriege 2012, 2008/09 und 2006. Die Muster sind gut eingeübt, die Mittel dieselben wie in früheren Gaza-Offensiven:
Die Hamas feuert Raketen auf Israel, Israel versucht die Extremisten militärisch zurückzudrängen. Erschreckend ist die Visionslosigkeit auf beiden Seiten. Man beschränkt sich auf kurzfristige Ziele und wartet auf die nächste Runde.
KNA: Welche Auswirkungen hat die Lage für die Dormitio-Abtei?
Schnabel: Wir hören nicht auf, täglich für Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zu beten. Wie alle anderen im Land leiden wir ökonomisch unter der Situation. Pilger und Touristen bleiben aus, Gäste sagen ab, es finden nur noch wenige Begegnungen mit Pilgergruppen statt, und unsere Cafeteria ist leer. Es herrscht eine merkwürdig ruhige Stimmung im Kloster. Eine andere Sorge, die sich bislang zum Glück als unbegründet erwiesen hat, gilt dem nächsten Studienjahr, das im August beginnt. Die reguläre Durchführung dieses Programms ist durch die derzeitige Situation nicht gefährdet.
Insgesamt muss man sagen, dass es in Jerusalem ruhig ist und dass keine Panik herrscht. Auch unsere jungen Volontäre gehen sehr gefasst mit der Situation um. Schwieriger sind die Reaktionen der Familien zu Hause, die aufgrund mancher Medien den Eindruck erhalten, hier breche gerade der dritte Weltkrieg aus. Hier plädiere ich an die Medien, vor allem jene, die mit Bildern arbeiten, ausgewogen zu berichten, weder zu verharmlosen noch Panik zu erzeugen.
KNA: Wie muss man die Ereignisse im Heiligen Land in die Gesamtlage im Nahen Osten einordnen?
Schnabel: Man muss vor allem aufpassen, dass man sich nicht zu einem Schwarz-Weiß-Denken hinreißen lässt. Gewisse Leute neigen dazu, die gesamte Region mit einem Satz zu erklären. Hier ist Vorsicht geboten.
Zwar machen diese verkürzten Sätze die Welt einfacher, weil sie Opfer und Täter klar zuweisen, aber dafür ist die Region zu kompliziert und sind zu viele Akteure am Werk.
KNA: Zum Beispiel?
Schnabel: Es ist gefährlich, von einer dezidierten Christenverfolgung im Nahen Osten zu sprechen. Diese Rede wird unter anderem gern von der israelischen Rechten benutzt, um zu betonen, dass Israel das einzige sichere Land für Christen in der Region sei. Dazu gibt es zwei Dinge zu sagen: Auch in Israel gibt es Übergriffe jüdischer Extremisten auf Christen. Und die Gewalt etwa der IS-Milizen im Irak richtet sich nicht gezielt gegen Christen, sondern gegen alle Minderheiten. Radikalste Kreise stehen moderaten Gruppen gegenüber.
Es handelt sich um die brutalste Form der Intoleranz gegenüber allen, die nicht dem engen Weltbild dieser Radikalen entsprechen. Dabei geht es aber nicht um die konkrete Religion.
KNA: Wie ist dann die Lage der Christen gegenwärtig?
Schnabel: Die Christen sind auf beiden Seiten Opfer. Die wenigsten Medien berichten überhaupt über ihre Existenz. Der Konflikt wird auf eine Konfrontation zwischen Muslimen und Juden zugespitzt. Eine Fußnote zu den Christen erforderte schon zu viel Differenzierung.
Zugleich sind die im Allgemeinen moderaten Christen sehr vorsichtig und ruhig. Das ist nachvollziehbar - aber ich wünschte mir, sie würden sich weniger als Minderheit im eigenen Land als vielmehr als Teil der weltweit stärksten Glaubensgemeinschaft sehen und kräftiger auftreten. Allerdings gelten im gegenwärtigen Hurra-Patriotismus moderat-differenzierte Stimmen auf beiden Seiten als Nestbeschmutzer.
KNA: Was sind die möglichen Szenarios für die kommende Zeit? Gibt es einen Weg aus der Gewalt?
Schnabel: Als John Kerry seine Friedensgespräche initiierte, gab es den üblichen Spott, es werde nur geredet. Die Alternative sehen wir jetzt. Vielleicht sieht jetzt jeder, dass Reden nicht die schlechteste Alternative ist. Denn es gibt nur diese beiden Optionen:
Man kann sich in den Zyklen der Gewalt einrichten oder sich mutig an eine Lösung wagen. Nur bräuchte es dafür auf beiden Seiten jemanden, der seinem Volk die bittere Pille verabreicht. Auf israelischer Seite müssen der Stopp des Siedlungsbaus und die Räumung der meisten Siedlungen durchgesetzt werden. Auf palästinensischer Seite muss man sich von der Forderung nach dem Rückkehrrecht aller Flüchtlinge verabschieden. Das sind die beiden unpopulären Schritte, die es benötigt - und zugleich die größten Hindernisse für einen Frieden.
Bislang traut sich niemand an diese Punkte, weil sie zu angst- und emotionsbesetzt sind.
Das Interview führte Andrea Krogmann.