Stimmen die Zahlen, die die argentinische Tageszeitung "La Nacion" recherchiert hat, dann gab es im Heimatland von Papst Franziskus in den vergangenen 20 Jahren mindestens 63 Anschuldigungen gegen katholische Geistliche wegen sexuellen Missbrauchs. Das jüngste Opfer soll drei Jahre alt gewesen sein, betroffen gewesen seien neben Pfarreien auch Kinderheime, Schulen und Priesterseminare.
Nach Erkenntnissen von "La Nacion" führten 17 Anschuldigungen zu juristischen Verurteilungen, 22 Fälle sind Teil laufender Verfahren, 20 wurden juristisch nicht geahndet. Der große Unterschied zu anderen Missbrauchsskandalen wie zum Beispiel in Deutschland, Chile oder den USA: In Argentinien gab es laut der Zeitung nie eine umfassende offizielle Untersuchung - weder vonseiten der Justiz noch vonseiten der Kirche.
Kirche tritt Flucht nach vorne an
Die argentinische Kirche tritt angesichts der Berichterstattung die Flucht nach vorne an. Bischof Sergio Buenanueva aus der Diözese San Francisco (Cordoba) räumte in einer Stellungnahme ein, es habe ein "krankes System in der Kirche gegeben, dass die Missbrauchsfälle vertuscht habe". Heute sei Prävention die größte Aufgabe der Kirche.
Das Thema sexueller Missbrauch nimmt in der argentinischen Öffentlichkeit langsam einen größeren Raum ein. Erst vor wenigen Wochen hatten Opfer sexuellen Missbrauchs durch Kirchenvertreter in Argentinien Papst Franziskus aufgefordert, sie in den Vatikan einzuladen. Wenn der Papst nicht nach Argentinien komme, müsse er die Opfer im Vatikan empfangen, forderte Peter Isley, Gründer des internationalen Netzwerks "Ending Clergy Abuse".
Die Leidtragenden aus Argentinien und anderen Ländern fordern Gerechtigkeit, wie Isley sagt. Der Papst sei aus irgendeinem Grund nicht in der Lage, mit den Betroffenen in seinem Heimatland eine Beziehung aufzubauen. Dabei spitzt sich die Lage immer weiter zu: Kürzlich hatten sich zahlreiche Aktivisten zu Protesten vor dem kirchlichen Institut Provolo in Mendoza eingefunden, das wegen eines Missbrauchsskandals Ziel von Ermittlungen ist. Mehrere Organisationen kündigten ähnliche Aktionen an.
Papst verschärft Kampf gegen Missbrauch
Franziskus selbst hatte die Kirchenrechtsnormen im Kampf gegen sexuellen Missbrauch durch Geistliche kürzlich verschärft. Das im Mai veröffentlichte neue Gesetz sieht neue Verfahrensweisen für die Strafanzeige vor und führt eine weltweite Anzeigepflicht ein.
Erstmals regelt es die Untersuchung gegen Bischöfe, die Ermittlungen vertuscht oder verschleppt haben. Es verpflichtet die kirchlichen Stellen, die staatlichen Strafermittler bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Zudem müssen alle Diözesen bis spätestens Juni 2020 ein leicht zugängliches Meldesystem für Anzeigen einrichten.
Zu den wichtigsten Neuerungen gehört ein Verfahren, um mögliche Unterlassungen von Verantwortlichen aufzuspüren. Für entsprechende Voruntersuchungen gegen Bischöfe erhalten die Metropolitan-Erzbischöfe eine besondere Rolle.
Um Verfahren zu beschleunigen, muss der Vatikan binnen 30 Tagen über den Stand der Voruntersuchungen informiert werden. Zudem werden alle Kleriker und Angehörigen von Ordensgemeinschaften auch rechtlich verpflichtet, Informationen über möglichen Missbrauch oder eventuelle Unterlassungen beim Kirchenoberen zu melden. Dies gilt künftig nicht mehr nur im Fall minderjähriger und schutzbefohlener Opfer, sondern auch, wenn Ordensfrauen sowie abhängige volljährige Seminaristen oder Ordensnovizen betroffen sind sowie im Fall von Kinderpornografie.
Die neuen Normen, die der Papst erließ, wurden vom Vatikan als weiteres Ergebnis des Anti-Missbrauchgipfels Ende Februar im Vatikan vorgestellt. Das sogenannte Motu Proprio trägt den Titel "Vos estis lux mundi" (Ihr seid das Licht der Welt). Die neuen Normen gelten zunächst für drei Jahre und traten am 1. Juni in Kraft. Die Auswirkungen werden auch in Argentinien spürbar sein.