DOMRADIO.DE: Das Edith-Stein-Archiv gibt es schon lange. In seiner heutigen Form aber besteht es erst seit 2010. Was genau beherbergt es? Und wie kam der Nachlass von Edith Stein nach Köln?
Thomas Schuld (Historiker und Leiter des Kölner Edith-Stein-Archivs): Bei uns lagert der gesamte schriftliche Nachlass von Edith Stein, soweit vorhanden. Also alle originalen Handschriften, von denen wir wissen. Da sie 1938 nach der Reichsprogromnacht in das niederländische Kloster Echt übersiedelte, wo sie am 2. August 1942 verhaftet und von dort dann deportiert wurde, befand sich in Echt auch ein Großteil ihrer Werke, Aufzeichnungen und Korrespondenz. Geistesgegenwärtig hat das Kloster nach Edith Steins Tod ihre gesamten Schriften in Säcken verstaut und diese auf einem Bauernhof in der Nähe deponiert, wo sie nach dem Krieg gut erhalten auch wiedergefunden wurden. Es war Pater Herman Leo van Breda, der während des Krieges an der Katholischen Universität in Leuven über Edmund Husserl promovieren wollte und später dessen umfangreichen Nachlass ordnete, so dass er in diesem Kontext auch nach den Schriften der Schülerin und Assistentin Husserls, Edith Stein, suchen ließ. Zwar mehr aus Eigennutz, um den Nachlass Husserls zu vervollständigen, aber letztlich hat van Breda der Nachwelt damit einen großen Dienst erwiesen.
Denn ihm ist zu verdanken, dass nicht nur der Nachlass des jüdischen Philosophen vor dem Zugriff der Nationalsozialisten gerettet wurde, sondern auch der von Edith Stein nicht verloren gegangen ist und zunächst in Leuven verblieb. Weitere Archivalien von ihr wurden dann zusätzlich noch im Keller des Klosters Echt gefunden. Für uns ist die Existenz von etwa 20.000 Originalblättern ein Glücksfall. Wiederum eine Mitarbeiterin von Pater van Breda, Lucy Gelber, publizierte dann ab den 50er Jahren nach und nach Schriften von Edith Stein. Und so wurden diese sehr präsent, zumal Edith Stein zu diesem Zeitpunkt noch keinen Bekanntheitsgrad erlangt hatte. So aber wurde ihr mit einem Mal viel Aufmerksamkeit zuteil.
DOMRADIO.DE: Wie sah das denn rechtlich aus? Da taucht mit einem Mal so ein geistiges Erbe auf. Wem gehört ein solcher Nachlass dann?
Schuld: Der Karmel – damals auf der Dürener Straße – war im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört worden. Dennoch konnte kirchenrechtlich zweifelsfrei geklärt werden, dass der Besitz einer Ordensfrau immer dem Ort zugerechnet wird, an dem sie die Ewige Profess abgelegt hat. Und das war nun mal der Kölner Konvent. Schließlich lagerte der gesamte Nachlass dann in der Klosterzelle von Sr. Amata Neyer, der langjährigen Priorin des Kölner Karmels, die irgendwann nach und nach die umfangreiche Korrespondenz von Edith Stein, die diese mit vielen Menschen und Institutionen geführt hatte, sichtete, sortierte und Ende der 70er Jahre herausgab. Wenn man bedenkt, dass es damals noch kein Internet gab und alles per Hand erfolgen musste, kann man sich die Fleißarbeit vorstellen, die sie in diese Publikation investiert hat.
DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung hat das Archiv heute für die Edith-Stein-Forschung?
Schuld: Inzwischen wurden natürlich viele Manuskripte von Edith Steins Schriften digitalisiert. In unserem Tresor liegen ihre philosophischen Schriften, das Manuskript ihrer "Kreuzeswissenschaft", ihrem letzten großen Werk, das sie in Echt verfasst hat, viele Briefe, Mitschriften aus Seminaren, persönliche Dokumente wie ihre Doktorurkunde oder Nachweise über Bibliotheksausleihen, Fotografien und Exzerpte von Vorlesungen in Breslau, Göttingen und Freiburg, so dass wir uns auch ein Bild von ihrer geistigen Entwicklung machen können. Es ist eine ziemlich umfangreiche Sammlung, zu der mittlerweile auch die fast komplette Sekundärliteratur über Edith Stein gehört, darüber hinaus Belegexemplare von Doktorarbeiten aus der ganzen Welt. Denn wir sind eine Spezial- und eine Präsenzbibliothek. Bei uns laufen viele Fäden der aktuellen Edith-Stein-Forschung zusammen. Das heißt, wir haben ständig Besucher und Gäste, die sich auch schon mal länger in Köln aufhalten und an unseren Bildschirmen arbeiten. Hier gehen internationale Forscher ein und aus.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie im Archiv den Großteil von Edith Steins Schaffen, ihre vielen philosophischen Einlassungen im Original aufbewahren, ist das ja ein Alleinstellungsmerkmal für Köln. Wer genau greift denn auf dieses Archiv bzw. den inzwischen reichen Buchbestand zurück?
Schuld: In der Tat Studierende und Gelehrte aus aller Herren Länder: zum Beispiel aus Brasilien, Japan, Italien, Spanien. Unsere Klientel ist komplett international und über die Internationale Edith-Stein-Gesellschaft auch miteinander vernetzt. Allein in der letzten Zeit waren hier deren Präsident, ein Benediktinerpater aus den USA, dann ein Professor vom Teresianum, der karmelitischen Universität in Rom, und ein Forscher aus Slowenien, der in Spanien auf Spanisch über Edith Stein promoviert, zu Gast. Alle diese sehr unterschiedlichen Menschen treffen sich hier bei uns im Karmel, so dass wir ein Zentrum für den wissenschaftlichen Dialog sind. Und dabei spielt natürlich die persönliche Begegnung eine wesentliche Rolle, weil es meist zu einem lebhaften Gedankenaustausch und gegenseitigen Anregungen kommt. Das war ja auch von Anfang an die Idee, die sich mit den neuen Räumen verknüpfte. Besucher können grundsätzlich nicht nur auf die Originale zurückgreifen, sondern auch auf die reiche Sekundärliteratur, die allein schon wegen ihrer Komplexität eine der Säulen dieser Bibliothek darstellt. Langfristig ist zwar geplant, unser digitalisierten Handschriften auch ins Internet zu stellen, also jederzeit verfügbar und abrufbar zu machen, aber da sind wir erst am Anfang.
DOMRADIO.DE: Bestimmt wäre das ganz im Sinne der Wissenschaftlerin Edith Stein gewesen, die Menschen zum Diskutieren und Philosophieren zusammenzubringen…
Schuld: Das ist ja auch spannend. Unsere Besucher kommen mit sehr unterschiedlichen Forschungsinteressen. Da lerne auch ich noch viel dazu. Diese intensive Form des Kontakteknüpfens wäre an einer Universität so nicht möglich. So gesehen, sind wir ganz im karmelitischen Geist, bei dem es immer um die Beziehung geht, unterwegs. Uns alle verbindet, dass wir das Andenken an Edith Stein bewahren, ihr Erbe pflegen und den Menschen nahe bringen wollen. Schließlich kommen auch ganz normale Pilger, die mit einem Mal vor der Tür stehen, weil sie irgendeine Verbindung zu Edith Stein haben. Ihr Leben, das prall gefüllt war mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und vielen Weggabelungen, hatte ja so viele Facetten. Selbst Zweifel und Depressionen waren ihr nicht fremd – trotzdem verehren wir sie als Heilige. Also, auch die dunkleren Stunden gehören in ihr Leben.
Eine typische Charaktereigenschaft von ihr war die Konzentration auf das Wesentliche. Edith Stein wollte den Dingen auf den Grund gehen, die Ursache, den Ursprung finden: letztlich die Wahrheit. Und das in aller Radikalität, deren logische Konsequenz ein Leben im Kloster war. Dabei hätte es auch ganz anders sein können. Zweimal war sie sehr verliebt, aber ihre Gefühle wurden nicht erwidert. Außerdem war sie eine exzellente Vortragsrednerin und als solche ja auch zunächst sehr weltlich unterwegs. Immer hatte sie dabei eine klare Diktion, ohne auftrumpfend oder emotional zu sein.
DOMRADIO.DE: Edith Stein war Philosophin, Pädagogin, förderte den Dialog zwischen Christen und Juden und engagierte sich vor allem auch schon früh in der Genderforschung, wie wir das heute modern nennen würden. Was glauben Sie, auf welchem Gebiet hat sie am nachhaltigsten gearbeitet?
Schuld: Unstrittig galt der Philosophie ihre ganze Hingabe. Und als Philosophin wird sie in unseren Tagen auch immer stärker wahrgenommen. An den aktuellen Übersetzungen lässt sich ablesen, dass ein großes Interesse an ihren wirklich schweren philosophischen Abhandlungen besteht. In Frankreich oder Lateinamerika gibt es mittlerweile ganze Fakultäten und Institute, die sich mit ihren Schriften auseinandersetzen. Daher auch die Internationale Edith-Stein-Gesellschaft. Dann sind in der Tat auch ihre Einlassungen zur Genderforschung zunehmend von Interesse, denn immer wieder hat sie Vorträge zur Stellung und Berufung der Frau gehalten. 2018 hat doch wirklich eine Doktorandin aus Princeton in einem Breslauer Archiv noch einen fast hundert Jahre alten Zeitungsartikel von Edith Stein aus dem Jahr 1919 gefunden, in dem sie mit gerade mal 28 Jahren das aktuell in der Weimarer Verfassung in Kraft getretene Wahlrecht für Frauen kommentiert. Dazu brauchte es schon Mut, aber Edith Stein war eben eine politisch denkende Frau.
DOMRADIO.DE: … und vermutlich "tough" genug, auch beim Thema Emanzipation ihre Pflöcke zu setzen…
Schuld: Nach katholischer Vorstellung war sie für damalige Verhältnissen jedenfalls wirklich sehr modern. Andererseits war sie gleichzeitig in mancher Hinsicht auch erstaunlich traditionell, wenn sie zum Beispiel Frauen und Männern jeweils geschlechterspezifische Eigenschaften zuordnet. Sie vereinbarte letztlich beides in sich: das fortschrittliche Denken der Moderne, aber auch das konservative Festhalten an Bestehendem. Trotzdem – und das war schon sehr außergewöhnlich – war sie erst die zweite Frau in Deutschland überhaupt mit einem Doktortitel in Philosophie, und den hatte sie mit der Bestnote "summa cum laude" bekommen. Wäre sie später mit ihrer Habilitation nicht ausgebremst worden, für die sie immerhin vier Anläufe genommen hat, hätte sie sich als Wissenschaftlerin zweifelsohne noch sehr viel weiter entwickeln und Karriere machen können. Das Profil dafür hatte sie, sonst hätte man sie auch nicht immer wieder als Referentin eingeladen. Rein theologische Forschungen zu Edith Stein sind hingegen eher noch selten, was damit zu tun haben kann, dass sie selbst ja auch keine Theologin war. Frauen studierten aber in den 20er, 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts dieses Fach auch noch nicht. Die Theologie war damals noch Männersache.
DOMRADIO.DE: Das mag erklären, warum sich Edith Stein der Wahrheitssuche nicht über die Theologie, sondern Philosophie genähert hat…
Schuld: Überraschend ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass vor kurzem ein Verfahren angestoßen wurde, dass sie als Kandidatin für die Würde einer Kirchenlehrerin vorschlägt. Das hat im März das Oberste Leitungsgremium des Karmelitenordens in Rom verkündet. Was beweist, dass Edith Steins Leben trotz eines fehlenden theologischen Diskurses eine große theologische Bedeutung hat. Denn Kirchenlehrer wird nur, wer ein außergewöhnliches theologisches Werk hinterlässt. Natürlich wird aktuell diskutiert, ob ihr Werk diesen Kriterien entspricht. Und diese Frage wird uns vermutlich die kommenden Jahre – wenn nicht Jahrzehnte – auch noch intensiv beschäftigen.
Als Präzedenzfall könnte allerdings die Heilige Therese von Lisieux herhalten, die sich ebenfalls nicht mit theologischen Schriften hervorgetan hat, von der man aber sagt, dass ihr ganzes Leben ein einziges theologisches Werk ist. Das könnte also ein Ansatz für weiterführende Überlegungen bei der Causa Edith Stein sein. Eine andere Kirchenlehrerin ist Teresa von Avila. Beide Namensvetterinnen waren im Übrigen auch Unbeschuhte Karmelitinnen. Edith Stein wäre also die Dritte im Bunde und angesichts einer solchen Ehre sicher sehr überrascht, zumal sie sich selbst eher als eine demütige Tochter der Kirche empfunden hat. Aber ein solcher Prozess wird die Beschäftigung mit ihr natürlich nochmals ganz neu in Gang setzen.
DOMRADIO.DE: Dieses Verfahren ist ja ein ganz spannender Punkt. Denn obwohl Edith Stein keine Theologin war, stellte sie von Anfang an die Fragen nach den letzten Dingen und näherte sich deren Antworten – zumindest auf der intellektuell-akademischen Ebene – über die Philosophie. Dennoch ist ihr Leben und Wirken von großer Bedeutung für die theologische Lehre und die Kirche, wie man jetzt sieht. Wie erklären Sie sich das?
Schuld: Weil uns diese Frau viel näher ist als viele andere große Persönlichkeiten in der Kirche. Wo gibt es sonst eine Heilige, die Atheistin und Frauenrechtlerin war? Die dem Papst geschrieben und ihn auf die Judenverfolgung aufmerksam gemacht hat und darauf, dass in ganz Europa die Menschenrechte mit Füßen getreten werden? Diesen Mut muss man erst einmal haben! Aufgrund ihrer vielseitigen Qualifikationen hatte Edith Stein eben einen inneren Kompass und war sich ihrer Sache sicher. Deshalb konnte sie sich auch vielem öffnen und lief nicht Gefahr, in einem katholischen Ghetto zu verharren. Sie vereinte sehr unterschiedliche biografische Elemente in sich; immer aber führte sie ein Leben nach einer inneren Logik, weil sie sich der Wahrheit verpflichtet sah, was sich unter anderem darin zeigt, dass sie sich jederzeit gegen Unrecht und Missstände klar positioniert hat. Von einem Märtyrer sagt man, dass er ein Wahrheitszeuge ist. Das Leben von Edith Stein war ein solches Zeugnis der Wahrheit. Sie war jemand, an dessen Leben wir ablesen können, wie unbeirrt und konsequent er seinem Gewissen folgt. Gleichzeitig kapselte sie sich von der Welt nicht ab. Gerade das macht ihre zeitlose Aktualität aus.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.