Bis zu 10.000 Flüchtlinge erreichen derzeit täglich die Grenze im Südosten Bayerns. Rotkreuz-Mitarbeiter schieben Einsätze rund um die Uhr, quartieren die Neuankömmlinge in Zelten ein, versorgen Kranke und Verletzte, begleiten Sonderzüge in andere Bundesländer als Sanitäter - ehrenamtlich. Ihren Arbeitsplatz, die Uni oder die Familie haben sie zum Teil seit Wochen nicht mehr gesehen. Am Mittwoch funkt die ansonsten allzeit bereite Rettungsorganisation selbst SOS.
Vergleich mit "Jahrtausendflut" im Juni 2013
"Das geht so nicht mehr weiter", sagt der Präsident des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK), Theo Zellner. "Das Hochwasser war irgendwann zu Ende, da schien dann wieder die Sonne", zieht er einen Vergleich zur "Jahrtausendflut" im Juni 2013. Für zeitlich überschaubare Ausnahmezustände fühlt sich das Rote Kreuz gerüstet, aber nicht, wenn diese zum Alltag werden. "Dieser Punkt ist jetzt erreicht", meint der Präsident. Bayern trage derzeit die Hauptlast der Flüchtlingskrise in Deutschland, da sei sei richtig, von München aus den Druck auf Berlin und Brüssel zu erhöhen. "Die Kanzlerin muss sagen, ob sie das so will und wie das geschafft werden soll."
Im Grenzort Freilassing unweit von Salzburg etwa befindet sich das BRK seit 35 Tagen im 24-Stunden-Betrieb. In einer großen Halle werden die Neuankömmlinge mit dem Nötigsten versorgt. Der tägliche Durchlauf: 2.000 Leute. Im Schnitt brauchen 100 von ihnen akute medizinische Hilfe, weil sie verletzt sind oder schwer krank. Das kann ein hoch fiebriges Kind sein, das ohne sofortige Behandlung den Weitertransport nicht überleben würde. Wer nur einen Daumen gebrochen hat, muss warten.
Stimmung bei Helfern noch gut
Die Stimmung unter den Helfern sei noch gut, berichtet Einsatzleiter Florian Halter. Unterstützer kämen inzwischen aus Bad Tölz, Unterfranken und anderen Regionen Bayerns. Viele Krankenschwestern meldeten sich als Helfer, dazu Ärzte, auch Sanitätssoldaten der Bundeswehr. Und doch weiß Halter heute noch nicht, wie er seinen Dienstplan morgen besetzen kann.
Herbert Wiedemann, BRK-Kreisgeschäftsführer in Rottal-Inn, spricht von einer "katastrophalen Situation" an der Grenze. Zum Teil betrage der Vorlauf, wann die nächste Fuhre mit Flüchtlingen aus Österreich zu erwarten sei, gerade mal eine halbe Stunde. In einem Gebiet ohne Autobahn und Zuganbindung müssten die Menschen 16 bis 18 Stunden in Zelten ausharren, bis ein Bus sie in eine Erstaufnahmeeinrichtung bringe. In Dörfern wie Ering mit 800 Einwohnern seien zum Teil 1.200 Menschen "völlig unkoordiniert unterwegs".
Zunehmende Aggressionen unter Neuankömmlingen
Wiedemann beobachtet zunehmend Aggressionen unter den Neuankömmlingen. Den ersten Flüchtlingen habe man ihre Kriegserlebnisse ansehen können, erzählt er. "Die haben in tiefster Dankbarkeit Hilfe angenommen." Inzwischen würden Forderungen gestellt und laut skandiert, bei der Weiterfahrt mit den Bussen keinerlei Rücksicht mehr beim Einsteigen auf Frauen und Kinder genommen. Viele Flüchtlinge wollten sich auch der Registrierung in Deutschland entziehen.
Für sich häufende tätliche Auseinandersetzungen macht der Rotkreuz-Mitarbeiter den gestiegenen Anteil junger Männer aus Afghanistan verantwortlich. Mittlerweile gebe es alle ein bis zwei Tage an jedem Standort eine Eskalation, bei der die Polizei eingreifen müsse.
Bayerns Ministerpräsident Seehofer lädt Hilfsorganisationen zum Sondierungsgespräch
Von einer "nationalen Notlage" sprechen die Rotkreuzler und fordern mehr Solidarität - von der bayerischen Staatsregierung, den anderen Bundesländern und der EU. Mehr Hauptamtliche werden gebraucht, gern auch mehr Soldaten, dazu unbürokratischere Abläufe. Anfragen wurden längst gestellt, aber auf Zusagen warten sie noch. "Die Menschen arbeiten schon lange sehr pragmatisch, die Strukturen sind es nicht", klagt Wiedemann, dem alles nicht schnell genug geht. Am Donnerstag hat Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) die Hilfsorganisationen in die Staatskanzlei geladen.