HIMMELKLAR: Wie geht denn die evangelische Kirche mit Gottesdiensten und Lockerungen um?
Petra Bahr (Evangelische Regionalbischöfin von Hannover und Mitglied im Deutschen Ethikrat): Da gibt es ein ganz gemischtes Bild. Zum einen werden mancherorts diese digitalen Angebote überraschend gut angenommen. Es gibt Dorfpastoren, die haben plötzlich tausend Gottesdienstbesucher und Besucherinnen. Da ist dann vielleicht jemand aus Bayern mit dabei, der in Niedersachsen aufgewachsen ist.
Dann gibt es andere, die sehnen sich so sehr nach einem Gottesdienst, wo viel gesungen wird und viel Liturgie ist. Die spielt ja in der Lutherischen Kirche eine große Rolle. Diese Menschen müssen einfach einsehen, dass sie damit andere gefährden und das deswegen nicht tun können.
Es wird auch immer deutlicher, dass die Krise, in der die Kirchen ja nun wahrlich vor der Pandemie steckten, auch was den Gottesdienstbesuch angeht, sich nochmal durch die Pandemie verschärft. Zum einen, weil die, die regelmäßig in die Gottesdienste kommen, häufig jedenfalls etwas älter sind und sich manchmal nicht trauen.
Andere fordern ganz vehement, dass alles wie vorher ist und dass man doch keine Masken tragen müsse und dass man zwölf Paul-Gerhardt-Strophen schon singen könne, denn der Heilige Geist passe schon auf einen auf. Da gibt es große Spannungen zwischen unterschiedlichen Einschätzungen und unterschiedlichen geistlichen Haltungen.
Die Diskussion, die wir gerade vor allem führen, ist: Woher kommt eigentlich diese Konzentration auf den Gottesdienst? Das liegt für Protestanten und Protestantinnen gar nicht so nahe, weil das Christsein im Alltag das Entscheidende ist. Das ist von dieser Pandemie in einer anderen Weise eingeschränkt. Niemand ist daran gehindert, sich für die Anderen zu verausgaben.
Die christliche Existenz ist vielleicht mehr gefordert denn je, aber die innersten hochkirchlich Verbundenen haben vor allem die Vorstellung, dass Kirche eine Veranstaltungsagenda ist. Das fällt gerade flach und das ist für viele mit Schmerzen verbunden, weil unsere Kirche natürlich nicht nur religiöse Orientierung bietet, sondern auch Orte des sozialen Zusammenseins, der Freundschaften, des Austausches, des "Raus aus der Einsamkeit", mit anderen Musik machen, und dass das wegfällt, ist für den Gemeindealltag schon eine große Strapaze.
HIMMELKLAR: Frau Bahr, jetzt sprechen wir mit Ihnen nicht nur als Bischöfin, als Pastorin, sondern auch als Ethikexpertin. Sie sind ganz neu berufen als Mitglied im Deutschen Ethikrat. Der ist in den letzten Wochen viel in den Schlagzeilen gewesen, weil er vom Gesundheitsministerium und Jens Spahn den Auftrag bekommen hat, zu klären, wie Deutschland zu einem möglichen Immunitätspass steht. Sie können natürlich nicht die Gespräche hinter verschlossenen Türen wiedergeben, aber wie sieht die Diskussion aus?
Bahr: Ich würde es mal etwas grundsätzlicher fassen. Alle haben, glaube ich, verstanden, dass wir mit diesem Virus werden leben müssen und es gibt jetzt langsam die Debatte darüber: Wie können wir einander möglichst schützen, indem wir Abstand halten, Masken tragen oder Großveranstaltungen absagen? Und was gibt es eigentlich für Möglichkeiten, zusätzlich Sicherheiten zu schaffen und zum anderen diejenigen möglichst vor Freiheitseinschränkungen zu beschützen, die diese Krankheit schon hatten?
Das klingt alles ganz einfach, zeigt aber wie schwierig es ist, eine solche Debatte zu führen, weil wir zum Beispiel rein wissenschaftlich noch ganz wenig wissen über den Grad der Immunität. Wie lange dauert die Immunität? Wie sicher ist eigentlich die Aussage? Gibt es auch noch andere Formen des “immun-Seins“, die gar nichts mit einer durchgemachten Covid 19-Erkrankung zu tun haben?
Also, es gibt ganz viele Fragen und die schrumpfen in der Öffentlichkeit zu so einer Art Heilssymbol. So nach dem Motto: Wenn wir das haben, dann kriegen wir den Virus in den Griff. Wenn wir die Tracing-App haben, dann müssen wir uns keine Gedanken mehr machen. Und ich glaube, dass es zu einer guten ethischen Reflektion auch gehört, sich immer wieder klar zu machen, dass wir uns nichts vormachen dürfen. Wir wissen immer noch sehr, sehr wenig und erst dann, wenn wir ganz viel wissen, können wir überlegen und können uns diese Instrumente eigentlich helfen.
Das Interessante am Ethikrat ist, dass sowohl das naturwissenschaftliche Knowhow als auch die ethische Reflektion zusammenlaufen und es deswegen wie so ein Lehrort im Brennglas ist, wo vieles an Debatten vorweggenommen wird und auch vorweggenommen werden muss. Was gesamtgesellschaftlich über die Schlagzeilen doch reichlich verkürzt daher kommt.
HIMMELKLAR: Dann würde ich gerne mal noch so ein, zwei heiße Eisen an ethischen Debatten aufgreifen, über die die Gesellschaft gerade diskutiert. Das Eine ist zum Beispiel die Frage: Wie gehen wir eigentlich mit dem Wert des Lebens um? Wir erinnern uns, Wolfgang Schäuble hat gesagt: Man muss in der politischen Debatte nicht unbedingt das Leben über alles stellen. Wir als Kirchen sagen ja ganz lange das Gegenteil. Wir sagen: In jedem Fall hat das Leben die höchste Priorität. Wie geht man als Christ mit so einer Diskussion um, wenn der Wert des Lebens auf einmal infrage gestellt wird?
Bahr: Wolfgang Schäuble sagt einiges, was uns Christinnen und Christen zum Nachdenken bringen sollte, denn natürlich steht der Lebensschutz hoch und die Würde über allem, aber das Würdeversprechen, was auch in unserer Verfassung steht, ist ja nicht gleichbedeutend mit einer Unsterblichkeitsgarantie. Also die hohen Lebensrisiken, die wir alle täglich eingehen, dadurch dass wir leben, kann der Staat nur in Grenzen ermäßigen.
Der Staat hat keine Unendlichkeitsoptionen für uns Menschen, der kann alles dafür tun, um Zusammenhänge zu schaffen von der Gesundheitsversorgung bis zur inneren Sicherheit, dass das Leben möglichst gelingt. Aber an so etwas wie Schicksal oder die Einsicht, dass wir alle mit hohen Risiken leben, nicht nur was dieses Virus angeht, das musste einfach mal erinnert werden.
Und in der theologischen Perspektive scheint mir wichtig zu sein, dies unterscheiden zu können. Denn auch das Ende des Lebens ist ein großes Thema in der christlichen Tradition. Und gerade als in Pflegeeinrichtungen nur noch über künstliche Beatmungsgeräte geredet wurde und ganz selten noch über das, was hochbetagte Menschen für sich selber wollen im Angesicht ihres eigenen Sterbens, fand ich eher bedrückend.
Wir haben sonst in vielen Debatten über Palliativmedizin geredet, wir haben viel über Patientenverfügungen geredet, aber in dem Kontext plötzlich gar nicht mehr. Und ich weiß, dass das durchaus auch für Schwerstbetroffene eine große Not war, weil sie Sorge hatten, in einen medizinischen Kontext zu geraten, den sie selbst einfach nicht mehr wünschen.
Und Schäuble, der nun wirklich unverdächtig ist, ein 35jähriger hochfitter Mann zu sein, auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Karriere, hat etwas gesagt - auch über sich selbst. Nämlich dieses christliche “Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“. Nicht im zynischen Sinne, nicht die Anderen sollen sterben, sondern ich muss mich mit meiner Sterblichkeit auseinandersetzen.
Und ich glaube das Beunruhigende an dieser Pandemie ist, dass - obwohl immer schon gestorben wird und auch auf schreckliche Weise -, plötzlich allen nochmal so vor Augen steht: Die krasse Unverfügbarkeit des Lebens, die plötzlich gefährdet wird durch etwas, dass irgendwie in der Luft steht und was man nicht mal sieht.
HIMMELKLAR: Ich will noch ein zweites Konfliktthema aufgreifen. Die ehemalige thüringische Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht hat in der Corona-Situation starke Vorwürfe an die Amtskirchen gerichtet und gesagt, dass die Kirchen sich hätten lauter zu Wort melden müssen schon zu Beginn der Pandemie, weil sich viele Seelsorger einfach im Stich gelassen fühlen. Lieberknecht war Pastorin. Wie stehen Sie quasi als Kollegin zu der Debatte?
Bahr: Um es vorweg zu sagen: Ich glaube, dass wir in dieser Krise alle miteinander, nicht nur die Bischöfe, sondern alle, die in unserer Gesellschaft gerade die Verantwortung haben, die anderen etwas schuldig geblieben sind, Fehler gemacht haben, Sachen falsch eingeschätzt haben.
Um mal ein Beispiel zu nennen: In Wolfsburg gibt es eine Pflegeeinrichtung der Diakonie, in der sehr, sehr viele Menschen gestorben sind, weil das Virus sich da ausgebreitet hat. In einer Einrichtung daneben gab es wütende Äußerungen von Angehörigen, die einfach gerne zu ihren schwer dementen oder auch sterbenden Angehörigen gegangen wären. Wie will man in so einer Situation das Richtige machen?
Bei näherer Betrachtung ist die Amtskirche ja auch nicht das Gegenteil von denjenigen, die die Seelsorge machen. Sondern die sogenannte Amtskirche ist die Gemeinschaft der Ämter im kirchlichen Dienst. Wir haben jedenfalls in unserer Landeskirche innerhalb von Tagen die Telefonseelsorge vermehrfacht, überall Hotlines eingerichtet. Es sind Seelsorger und Seelsorgerinnen über Wochen in den Einrichtungen geblieben, um Patienten oder Bewohner nicht zu gefährden. Es gab ein hohes Maß an Kreativität, auch um Menschen durchaus mit technischen Geräten wie etwa Tablets, so etwas wie Nähe in der sozialen Distanz zu ermöglichen.
Trotzdem ist es überhaupt keine Frage, dass Menschen gelitten haben, dass Menschen, die 60 Jahre miteinander verheiratet waren, genötigt waren sich zu trennen und dem Anderen im Sterben nicht die Hand halten zu können. Das ist etwas ganz fürchterliches und ich hätte mir gewünscht, dass man sehr viel früher Möglichkeiten gehabt hätte damit umzugehen. Aber sich immer klar zu machen, dass mein innigster Herzenswunsch möglicherweise dazu führt, dass in einer anderen Familie Leben zerstört wird, zeigt eben, in welcher Drucksituation sich viele befunden haben.
Und die Pastoren und Pastorinnen, die in meinem Sprengel arbeiten, haben sich wirklich bis zur Erschöpfung aufgerieben, nächtelang Telefonseelsorge betrieben, versucht, Kontakt zu denen in ihren Gemeinden zu halten, die aus dem Blick zu geraten drohten - und das nicht nur über digitale Medien.
Deswegen finde ich diese Art von Beschimpfung von Geistlichen ehrlich gesagt für die Pastorinnen und Pastoren, aber auch die Diakone und Diakoninnen, auch die Kirchenmusiker überhaupt nicht angemessen und würde mich da immer vor die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen stellen.
HIMMELKLAR: Frau Bahr, was bringt Ihnen in der aktuellen Situation Hoffnung?
Bahr: Hoffnung bringt mir, dass ich sehe, dass doch sehr, sehr viele nun ganz offen und frei darüber diskutieren, worauf es eigentlich im eigenen Leben und in der Gesellschaft ankommt. Sie bekennen sehr viel freimütiger, dass sie möglicherweise sich von Dingen haben erschrecken und ablenken lassen, die so wichtig gar nicht waren. Das beobachte ich auch in meinem engsten Umkreis und ich würde das auch für uns als Familie in Anspruch nehmen.
Ich bin beeindruckt darüber, wie etwa mein zwölfjähriger Sohn darüber reflektiert, was Kinder eigentlich in Zukunft lernen sollen. Das hat zum einen mit der Faszination für die Virologie zu tun, aber zum Anderen auch mit der Einsicht, dass es jetzt darum geht, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Menschen mehr füreinander da sind, eine Gesellschaft, die mutiger und innovativer ist, die vielleicht auch sowas wie Schule neu zu denken bereit ist, die sich um die großen Krisen mit dem gleichen Engagement kümmert wie jetzt in der Bewältigung der Pandemie, etwa die Klimakrise.
Also ein hohes Bewusstsein für die Gefährdung unserer Existenz und die Großartigkeit des Lebens, das uns geschenkt wurde und das wir einfach zu sehr an Dingen verschwenden, die nicht wichtig sind.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.
Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch.