DOMRADIO.DE: Papst Franziskus ist gerne von Menschen umgeben, in der Öffentlichkeit hat man ihn aber nur einmal, am 9. September, mit Mundschutz gesehen. Weder am Wochenende in Assisi, noch bei der Generalaudienz mit hunderten Besuchern trägt er Maske. Warum?
Ulrich Nersinger (Vatikanexperte): Eines wird für mich da sehr deutlich. Man stößt an Grenzen. Wir stehen im Vatikan vor einem Dilemma, vor einem großen Dilemma. In der Vatikanstadt, also dem kleinsten Staat der Erde, haben wir sehr strenge Vorgaben, wie mit der Pandemie umzugehen ist. Diese sind erst am Dienstag dieser Woche noch einmal verschärft worden. Aber sie treffen auf Besonderheiten, die ihre Einhaltung nicht ganz einfach machen, sie erschweren, ja sogar unmöglich erscheinen lassen.
Einen Papst, der bei einer Generalaudienz seine Maske trägt oder die umherstehenden Gläubigen, die mit Masken versehen sind, zu sehen, verbreiten irgendwie ein ungutes Gefühl. Das gilt auch für die beiden Schweizergardisten, die die sogenannte Ehrenwache oder Thronwache stellen, wenn sie Mundschutz tragen.
DOMRADIO.DE: Auf der anderen Seite nützt es aber nichts, wenn man die Hygienemaßnahmen einhalten muss und das die Regel im Vatikan ist. Der Papst hat sogar Leute umarmt und Ihnen auf die Hand geküsst. Eigentlich geht das nicht, oder?
Nersinger: Das ist es eben. Ich selber bin auch in einem Wechselbad der Gefühle. Einerseits verstehe ich es. Der Papst mag das Bad in der Menge, er will mit den Leuten persönlich in Kontakt treten. Aber er ist natürlich auch jemand, der im höchsten Grade gefährdet ist. Wir wissen um seine Lungenerkrankungen (Franziskus wurde schon im Jugendalter ein Lungenflügel entfernt, Anm. d. Red.). Aber das ist vielleicht auch ein Grund, warum er dann keine Maske trägt, da wir ja nicht wissen, wie stark ihn das belastet.
Es ist natürlich sehr schwierig zu verstehen, dass auch die Umgebung des Papstes unterschiedlich mit diesen Vorschriften umgeht. Wir sehen die Leibwächter, die Personenschützer, die keine Maske tragen. Was ich natürlich auch wiederum verstehen kann. Sie müssen miteinander kommunizieren.
Aber dann sehe ich einen Bediensteten des Päpstlichen Hauses, der eine Maske trägt. Und ich sehe auch unter den Leuten, die in der Audienzhalle versammelt sind, welche, die die Maske anhaben. Andere tragen sie nur zur Hälfte, sodass die Nase frei ist.
Der Papst unterhält sich in diesem Umfeld dann mit kleinen Kindern, die keine Maske tragen müssen oder er küsst Neupriestern die Hände. Das ist ein ständiges Wechselbad der Gefühle, mit denen man nur schwer umgehen kann.
DOMRADIO.DE: Wie wird es von den Menschen aufgenommen? Der Papst sollte ja eigentlich ein Vorbild sein. Deswegen geht man davon aus, dass er natürlich eine Maske trägt, oder?
Nersinger: Die Leute haben die gleichen Ansichten. Sie sind auch sehr gespalten. Auf der einen Seite sind sie froh, jemanden zu sehen, der keine Maske trägt, der ganz offen mit ihnen reden kann. Auf der anderen Seite beschleicht sie dann doch ein seltsames Gefühl. Das ist, wie gesagt, ein Dilemma, für das ich auch keine Lösung sehe.
Das Interview führte Tobias Fricke.